Kritik zu Mammuth
Eine Motorrad-Tour de France der besonderen, fabelhaften Art. Gérard Depardieu durchstreift sein Heimatland – ein altgewordener Parsifal auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Nach unzähligen Jobs hat er die letzten Jahre in einer Fleischfabrik geschuftet. Jetzt mit 60 ist der Koloss von Mann wohl reif für die Rente. Das ist ein großer Augenblick, grotesk und poetisch, wenn Gérard Depardieu als Serge Pilardosse, den alle nur Mammuth nennen, seine Arbeitskleidung auszieht und seinen Haarschutz ablegt, um sein langes, grau-blondes Haar frei zu schütteln. Depardieu sieht dabei aus wie die gallische Version von Mickey Rourkes Wrestler. Seine Arbeitskollegen schenken ihm zum Abschied noch ein Puzzlespiel. Dieses Spiel, das so lächerlich wirkt für den schweren, alten Depardieu, hat in diesem subtilen Film freilich seine Bedeutung. Bald wird Depardieu als großer, reiner Tor sein Leben, seine Vergangenheit und seine Zukunft als riesiges Puzzle empfinden.
Zu Hause bei seiner taffen Ehefrau Catherine (Yolande Moreau) weiß er nichts mit sich anzufangen. Wenn sie zur Arbeit geht, stapft er wie ein gefangenes Tier durch die leere Wohnung. Die genervte und pragmatische Catherine weiß schließlich einen Ausweg. Mammuth-Depardieu soll seine Arbeitgeber aus der Vergangenheit aufsuchen und von ihnen Verdienstbescheinigungen einfordern, auf dass seine Rente ein wenig üppiger ausfalle. Für diesen Trip durch Frankreich soll er sein altes Motorrad benutzen.
So wie Clint Eastwood in »Gran Torino« einen edlen Ford gleichsam als Zeitmaschine in seiner Garage versteckt hält, so hat Depardieu ein legendäres Motorrad in seinem Schuppen stehen: eine schwere deutsche Münch Mammut, ein Superbike der späten 60er Jahre, vom genialen Tüftler Friedel Münch fast ganz in Handarbeit gefertigt, von Rockern der Arbeiterklasse und Jetset-Playboys wie Gunter Sachs gleichermaßen gefahren und geliebt. Es ist Magie, wenn Depardieu die Plane von der Maschine zieht und über den roten Tank der Maschine streicht, von der er seinen Kosenamen hat. Eine Atmosphäre schmerzlicher Erinnerungen an Jugend und Tod breitet sich aus. Das wunderschöne Gesicht einer Frau taucht plötzlich auf, das auf mysteriöse Weise versehrt und traurig wirkt. Verkörpert wird diese geisterhafte Erscheinung von der französischen Ikone Isabelle Adjani.
Depardieu und die Münch ergeben eine wunderbare Einheit: ein Fahrer und sein Bike, out of time, erhaben und komisch zugleich. Man traut sich dieses Wort gar nicht mehr zu verwenden, aber hier muss man es aussprechen: Das ist Kult, wie Depardieu grimmig dreinblickend dahinfährt, unbeeindruckt von den jungen, ultraschnellen Bikern, die geradezu an ihm vorbeifliegen. Aus seinem Rucksack ragt dabei ein Metalldetektor, den er später am Strand dazu benutzt, verlorene Münzen aufzufinden. Dieses lächerliche Utensil macht ihn vollends zum Suchenden, zu einem altgewordenen, immer noch naiven Parsifal, der sich auf die Suche nach Rentennachweisen macht, vielleicht auch auf die Suche nach der verlorenen Liebe, nach Erlösung. Wie in den besten Roadmovies spürt man in »Mammuth« den Wind und schmeckt den Asphalt und zugleich erlebt man eine Magical Mystery Tour durch Gedankenwelten. »Mammuth« ist ein poetisches, beinahe metaphysisches Roadmovie.
Natürlich bildet der Film auch soziale Realitäten ab. Er konfrontiert Depardieu als Simplizissimus mit der heutigen Gesellschaft. Depardieu spielt hier ein Mammut, das sich seinen Weg bahnt durch eine Mehrheit, die schlauer und vitaler ist als er selbst. Die alten Arbeitgeber, die er aufsucht, haben sich meist stark verändert. Mit seiner direkten und körperlichen Kontaktaufnahme stellt sich Mammuth-Depardieu im Zeitalter der Telekommunikation sowieso ins Abseits. Er ist Don Quichotte und Sancho Pansa zugleich, der letzte Ritter der Landstraße.
Hinter der Wirklichkeit des Films lauern aber stets fast surreale Momente. Sie werden deutlich an den seltsamen Begegnungen mit Menschen und Geistern. Da trifft Depardieu in anrührenden und oft sehr komischen Sequenzen auf todtraurige Handelsvertreter, auf besessene Biker, auf eine erotische Betrügerin und auf seine Nichte, eine äußerst schräge junge Künstlerin. Nie läuft »Mammuth« Gefahr, zum bloßen Feelgoodmovie zu verkommen. Über den ruhigen, genau durchkomponierten Einstellungen liegt immer auch ein Hauch von Verstörung. So begleitet schließlich auch mit Isabelle Adjani der Tod die Reise Depardieus. Am Ende dieses versponnenen, großartigen Films wird Depardieu aber buchstäblich seine Reifeprüfung ablegen.
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