Kritik zu The Lost Souls of Syria
Auf der Suche nach Gerechtigkeit: Der Film von Stéphane Malterre und Garance Le Caisne dokumentiert die Versuche syrischer Familien, die Gewalttaten des Assad-Regimes vor europäische Gerichte zu bringen
Mit einer Akribie, die tatsächlich an die nationalsozialistische Vernichtungsbürokratie erinnert, dokumentiert das syrische Terrorregime die Verbrechen an seinen Widersachern, nur eben digital: Fotos von jeder mit Spuren schwerster Misshandlungen versehenen Leiche, nummeriert und mit den Kennzahlen des jeweiligen Foltergefängnisses zu den Akten gelegt. Die Beweislage sei besser als bei den Nürnberger Prozessen, heißt es zu Beginn der Langzeitdokumentation »The Lost Souls of Syria«. – »Alles Fake«, »Photoshop«, »könnte überall auf der Welt aufgenommen sein«, so Diktator Baschar al-Assad kühl in einem Interviewausschnitt.
Dass diese Fotos ins Ausland gelangten, ist einem syrischen Militärfotografen zu verdanken, Deckname »Caesar«, der im Jahr 2013 unter Lebensgefahr 27 000 Aufnahmen in syrischen Archiven kopierte und auf einer Festplatte ins Ausland schmuggelte. Auf der Basis dieser »Caesar-Files« macht der Film, so die Macher:innen, die »Frage nach Gerechtigkeit und Strafe« zu seinem Gravitationszentrum, indem er geflohene Opfer und exilierte Angehörige von spurlos Verschwundenen sowie die spanische Anwältin Almudena Bernabeu und ihr Team bei dem Versuch begleitet, die Täter vor nationalen oder internationalen Gerichten anzuklagen. Ein Vorhaben, das zunächst auf vielen Ebenen scheitert, unter anderem am Veto von Russland und China vor dem UN-Sicherheitsrat. Dort sollte dem Internationalen Strafgerichtshof per Resolution die Möglichkeit eröffnet werden, strafrechtlich gegen das Assad-Regime vorzugehen.
Exemplarisch greift der Film die Bemühungen der syrisch-französischen Familie Dabbagh heraus, Bruder und Neffe des Familienvaters sind in syrischen Gefängnissen verschwunden. Dokumentiert wird all dies mit Bildern grausam verstümmelter Menschen, Aufnahmen der Protagonist:innen bei Zeugenbefragungen, Ermittlungen in Madrid, Den Haag und anderen Städten, bei Gesprächen mit juristischen Beraterinnen. Auf die bedrohlich raunende Hintergrundmusik, ohne die offenbar kaum eine Dokumentation mehr auskommt, hätte man bei der hinreichend bedrückenden Faktenlage durchaus verzichten können.
Warum produziert ein Regime selbst das Beweismaterial, das den Anklägern im Fall einer juristischen Aufarbeitung den Nachweis ungezählter Gräueltaten erlaubt? Um den Tod des Delinquenten nachzuweisen und um die Mittäter zur »Loyalität gegenüber dem Regime« zu zwingen, sagt ein Helfer, der wie »Caesar« im Film anonym bleibt.
Tatsächlich dienten die »Caesar«-Dateien im Prozess gegen einen nach Deutschland geflohenen syrischen Geheimdienstler erstmals dazu, Verbrechen individuell zuzuordnen. Der Angeklagte Anwar Raslan, ein ranghöherer Vernehmungschef in einem syrischen Gefängnis, wurde am 13. Januar 2022 in einem weltweit einzigartigen Prozess vom Oberlandesgericht Koblenz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit 27-fachem Mord und weiteren Vergehen wie Vergewaltigung und Freiheitsberaubung zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Anfang, immerhin.
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