Kritik zu Lenas Klasse
Lena sitzt im Rollstuhl und kommt in eine neue Sonderschule. Dort beginnt ihr Leidensweg erst...
Der ukrainische Film »The Tribe« begeisterte im letzten Jahr Filmfestivalbesucher auf der ganzen Welt – und das, obwohl er völlig ohne Dialoge auskam. In dem eindringlichen Drama stand eine Clique von Jugendlichen an einer Gehörlosenschule im Fokus, die mit kriminellen Machenschaften Angst und Schrecken verbreitet. »Lenas Klasse«, der Debütfilm des russischen Regisseurs Ivan Twerdowski, ist formell keineswegs so gewagt wie »The Tribe«, einige inhaltliche Parallelen aber fallen durchaus auf: Auch »Lenas Klasse« beschreibt den Einstieg einer neuen Schülerin in den Mikrokosmos einer Sonderschule; auch hier schwankt die Erzählstruktur zwischen befreiender Coming-of-Age-Stimmung und erschütternder quasidokumentarischer Sozialstudie.
Die Protagonistin Lena ist ein lebensfrohes junges Mädchen. Bisher wurde sie aufgrund ihrer Behinderung, die sie an den Rollstuhl fesselt, nur zu Hause unterrichtet, nun aber bekommt sie endlich die Chance, eine Klasse für Kinder mit verschiedenen Einschränkungen zu besuchen und so aktiver am sozialen Leben teilzunehmen. Das funktioniert zunächst hervorragend: Mit ihren neuen Freunden zieht Lena gut gelaunt durch ihre triste Heimatstadt; gemeinsam fühlen sich die Außenseiter stark, setzen sich gegen Diskriminierung durch und klauen Schnaps im Supermarkt. Twerdowski gelingt es in dieser ersten Hälfte, eine charmante Sturm-und-Drang-Atmosphäre aufzubauen, was vor allem an der Chemie zwischen den jungen Darstellern liegt. Ein wenig zu dick trägt der Film allerdings seinen halbdokumentarischen Anspruch auf: Sparsame Schnitte, Wackelkamera und monochrome Farbgebung wirken auf Dauer ermüdend. Einmal aber gelingt Twerdowski ein wahrhaft spektakuläres Bild: Bei einer Mutprobe folgt die Kamera einem der Jugendlichen unter einen fahrenden Zug.
Als Lena sich in ihren Klassenkameraden Anton verliebt und die beiden schließlich ein Paar werden, beginnt die verschworene Gemeinschaft langsam auseinanderzubrechen. Neid macht sich breit, es wird boshaft hinter dem Rücken der Verliebten getuschelt. Die Erwachsenenwelt, das ist von Anfang an klar, kann da nur wenig Einfluss nehmen; die Lehrer sind distanziert und gelangweilt, die Eltern heillos mit ihren Kindern überfordert. So eskalieren die Spannungen innerhalb der Gruppe aufs Fürchterlichste: Lena wird von ihren Mitschülern beleidigt, geschlagen und schließlich brutal vergewaltigt. Es ist ein mehr als fragwürdiger plot device, mit dem Twerdowski die zuvor aufgebaute Gruppendynamik zersprengt und ins grausige Gegenteil umkehrt. Im Kontrast zu den von Anfang an extremen Machenschaften der Kids in »The Tribe« wirkt dieser Gewaltausbruch in »Lenas Klasse« zu brachial und abrupt, zu offenkundig als Schockmoment konstruiert. Dass der Regisseur danach noch versucht, den Film mit einem positiven Schlussbild zu beenden, macht das Ganze eher noch schlimmer. Seine Intention mag es gewesen sein, das segregierende Schulsystem an den Pranger zu stellen; was bleibt, ist aber nur der Schock, nicht die Botschaft.
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