Kritik zu Girl on the Train
Tate Taylor hat den Bestseller von Paula Hawkins mit Emily Blunt in der Hauptrolle einer unzuverlässigen, weil trunksüchtigen Erzählerin verfilmt
Das Buch von Paula Hawkins, »The Girl on the Train«, stürmte Anfang 2015 die Bestsellerlisten; bis heute wurde es über 15 Millionen Mal verkauft. Erzählt wird eine Geschichte über drei Frauen und die Gewalt in schmucken Eigenheimen. »Domestic Noir« wird dieses neue Krimi-Subgenre genannt, das die Spannungen zwischen den Geschlechtern im Spätfeminismus spiegelt.
Die Gewalt beginnt beim Schauen. Rachel (Emily Blunt) fährt jeden Tag mit den Pendlerzug in die Stadt und dabei an der Straße vorbei, in der sie mit ihrem Exmann Tom (Justin Theroux) lebte. Die Scheidung von ihm hat sie nicht verkraftet. Sie trinkt, hat keinen Job mehr. Im Grunde hat sie mit Tom ihr Leben verloren, weshalb sie andere, vermeintlich glücklichere Leben in sich aufsaugt. Der Zug hält jeden Tag an derselben Stelle, mit Blick auf ein Haus, in dem Rachel sich das perfekte Paar vorstellt: Megan (Haley Bennett) und Scott (Luke Evans) sind jung und schön und scheinbar sehr verliebt. So obsessiv, wie Rachel sie beobachtet, erinnert das an »Fenster zum Hof« – und auch hier sieht die Voyeurin Schreckliches: Sie beobachtet, wie Megan einen anderen Mann küsst, was sie so wütend macht, dass sie die Ehebrecherin bestrafen will.
Rachel ist eine Paraderolle für Emily Bunt, die die Beschädigungen dieser Frau schmerzhaft eindringlich verkörpert. Alles an Rachel wirkt wie in Auflösung begriffen: ihre Figur, ihre Mimik, vor allem aber ihre Wahrnehmung. Am Anfang entwickelt »Girl on the Train« einen mächtigen Sog, ist atmosphärisch faszinierend, weil der Film Rachels Obsessionen folgt – und oft schon beim nächsten Schnitt deren Selbsttäuschung offenbart. Sie ist nur eine von drei Erzählerinnen, deren Eindrücke so verzahnt werden, dass sich das Geschehen puzzlegleich zusammensetzt. Schnell wird klar, wie unzuverlässig diese Zeuginnen sind: Die eine ist oft betrunken, die andere lügt, und die dritte ist vor Mutterliebe und Schlafmangel blind.
Die Beziehung von Megan und Scott ist jedenfalls keineswegs so perfekt, wie sie Rachel durch das Zugfenster imaginiert. Und auch Anna (Rebecca Ferguson), die Rachels Stelle an Toms Seite eingenommen und das Kind bekommen hat, das Rachel sich so sehr wünschte, ist unglücklich. Die Frauenrollen, die die drei Erzählerinnen verkörpern, muten gleichermaßen frustrierend an, und Rachels Schau-Lust, ebenso die Lüsternheit, die Megan bei den Männern provoziert, sind Versuche, die Leere zu füllen. Dann verschwindet Megan, und Rachel erwacht mit einer blutenden Kopfwunde, kann sich aber an nichts erinnern.
Solange auch der Zuschauer nicht sicher ist, was Rachel getan hat und wozu sie fähig ist, bleibt Tate Taylors Thriller spannend. Fast bedauerlich ist, dass am Ende die Schuldfrage eindeutig geklärt wird. Wie viel stärker eine ambivalente Auflösung sein kann, hatte zuletzt »Gone Girl« von David Fincher belegt, ebenfalls die Verfilmung eines Domestic-Noir-Bestsellers. Darin sind Männer ebenfalls Schweine – die Frauen aber sind nicht besser.
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