Kritik zu Die Klasse
Laurent Cantet zeigt den Verlauf eines Schuljahres aus der Nahperspektive eines Klassenraums in einem Pariser Problembezirk – als tägliches Ringen um gegenseitigen Respekt von Lehrern und Schülern
Die letzte Einstellung zeigt das leere Klassenzimmer: ein schmuckloser Raum, die Tische und Stühle verrückt, kein Schüler und kein Lehrer mehr da. Doch für den Zuschauer hallt der Raum förmlich wider von dem, was sich hier innerhalb eines Schuljahrs alles ereignet hat. Die Sache mit Souleymane, der aus nicht ganz gerechten Gründen einen Schulverweis erhielt; die Geschichte mit Khoumba, die dem Klassenlehrer in einem berührenden und vorwurfsvollen Brief ihre Mitarbeit aufkündigte; oder auch die mit Esmeralda, die sich am Ende auf verblüffend subtile Weise für eine herablassende Bemerkung des Lehrers rächt – indem sie ihm trotzig erzählt, in ihrer Freizeit Platons »Staat« zu lesen. Der Anblick des leeren Klassenraums macht einem bewusst, wie stark einen all diese Geschichten bewegt und ergriffen haben. Fast ist es so, als habe man hier selbst gesessen und mitgestritten, als Französischlehrer François Marin den Subjonctif der Vergangenheit gegen den Vorwurf der Schüler verteidigen musste: »So redet doch kein Mensch mehr!«
»Entre les murs« lautet der Originaltitel, und er gibt präzise an, wovon Laurent Cantets Film handelt: Von dem, was in diesem Raum, »in diesen Mauern« passiert. Der Film hat den Look einer Dokumentation, die Kamera nimmt das Geschehen im Klassenzimmer auf, als wäre sie ein unsichtbarer Mitschüler, der den Blick von Lehrer zu Schülern schweifen lässt, sich mal näher heranzoomt, mitfühlend verweilt, aber stets Beobachter bleibt. Ausschnitthaft wird der Verlauf eines Schuljahres geschildert, von der Lehrerversammlung zu Beginn, auf der die alten Kollegen sich den neuen vorstellen, über die erste Unterrichtsstunde zu Klassenarbeiten, Referaten, Elternsprechstunden bis hin zur abschließenden Notenkonferenz. Doch in der Hauptsache verweilt die Kamera im Klassenraum von Souleymane, Khoumba, Esmeralda und ihren Mitschülern. Sie sind um die 14; zum größten Teil – die Namen verraten es schon – Migrantenkinder. Die Diversität ihrer familiären Hintergründe läuft als Thema beständig mit; etwa wenn Hassim Unterstützung für die marokkanische Fußballnationalmannschaft bei jenen Schulfreunden einklagt, die traditionell zu Mali halten. Der farbige Carl aus der Karibik dagegen wird angegriffen, als er sich als »Franzose« bezeichnet. Und Wey, in China geboren, beschwert sich in einer Klassendiskussion über die mangelnde »Scham« seiner Mitschüler, was bei denen natürlich nur Hohn auf den Streber auslöst.
Aber nicht nur untereinander, auch im Verhältnis zum Klassenlehrer, der hier zwangsläufig als Stellvertreter der französischen »Leitkultur « agiert, spielen sie ihre Herkunft durchaus offensiv aus. Warum er immer so komische Namen wie »Bill« in seinen Beispielsätzen nehme und nicht mal »Aïssata« oder »Rachid«, bekommt François Marin von Esmeralda und Khoumba gleich in einer der ersten Französischstunden vorgeworfen. Es ist nur eine von vielen Situationen, in denen das Lehrer- Schüler-Verhältnis als prekäres Machtverhältnis gezeigt wird, dessen Balance beständig bedroht ist: Die Schüler reagieren sehr empfindlich auf Ungerechtigkeiten, sie provozieren aber auch gerne. Der Lehrer – den der Autor der Vorlage, François Bégaudeau selbst spielt – bemüht sich, auf sie einzugehen, und gleichzeitig stets seinen Status als Autorität und die Grenzen zu wahren. Um das herauszustellen, verzichtet der Film völlig – und das macht seine große Stärke aus – auf die üblichen Versatzstücke des Genres: Marin ist nicht der engagierte, mit pädagogischem Eros begabte Lehrer, der von missgünstigen Bürokraten- Kollegen in seiner Mission, unterprivilegierte Schüler zu bilden, behindert wird. Marin ist ein Lehrer unter vielen, der auch Fehler macht in einem sehr fordernden Beruf, bei dem sich manchmal mit einer zu schnell dahingesagten Antwort Verhältnisse umdrehen und mühsam aufgebautes Vertrauen zu Bruch geht. Statt eines großen Lehrer-Schüler-Dramas reiht der Film Begebenheit um Begebenheit aneinander, bis sich puzzleartig daraus das ganz normal zwiespältige Bild einer ganz normalen Schule ergibt. Eine Welt, die sich eben nicht als Kampf von guten und schlechten Schülern, guten und schlechten Lehrern beschreiben lässt, sondern wo es jeden Tag, jede Unterrichtsstunde aufs Neue ganz auf das Verhalten jedes Einzelnen ankommt.
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