Kritik zu Die Jungs vom Bahnhof Zoo
Rosa von Praunheim begegnet Strichern, Freiern, Barbesitzern und Sozialarbeitern in Berlin. Ein schonungsloses und bewegendes Mosaik über die Welt der mann-männlichen Prostitution
Kino, das ist für Rosa von Praunheim Leben. Seine Filme, ob fiktiv oder dokumentarisch, sind immer zugleich Politik und Poesie, pragmatische Lebenshilfe und künstlerische Reflexion. Und Praunheim ist als Filmemacher stets Teil der Welten, die er porträtiert: als Provokateur, Impresario oder Forscher und in letzter Zeit als neugierig-beobachtender Gesprächspartner. Jetzt hat Praunheim eine Art dokumentarisches B-Picture über das Phänomen der Männerprostitution gemacht, schnell und doch genau überlegt, schmutzig und doch voller Emotionen.
Was Praunheims Doku von gängigen TV-Reportagen unterscheidet, sieht man schon daran, wie er Gesichter zeigt und auf den Zuschauer wirken lässt. »Wounded Faces« haben sie alle, die ehemaligen und noch aktiven Stricher vom Bahnhof Zoo, jener Endstation der Sehnsüchte mitten in Berlin. Am stärksten gezeichnet ist zweifellos Nazif, ein Roma, der aus den Wirren des bosnischen Bürgerkriegs nach Berlin kam. Als Kind noch begann er für die Familie zu betteln und zu klauen, bald wurde er zum Stricher, was ihm den Respekt seiner Familie gekostet hat. Nazif ist der totale Außenseiter: schwul, Roma, drogensüchtig, kriminell, von der Gesellschaft und der eigenen Familie benutzt und ausgestoßen. Seine Erfahrungen hat er in seiner Autobiografie »Fluchtversuche« niedergeschrieben. Heute lebt er in Wien, ein Schattenwesen, jenseits der Endstation, mit einer sublimen Ausstrahlung.
»Fluchtversuche«, dieser Titel passt in doppelter Weise zur Stricherwelt um den Bahnhof Zoo. Fluchtversuche sind es nämlich oft, die die Jungs dorthin treiben. Flucht aus den kaputten Familien oder aus Jugendheimen wie meist bei den deutschen Strichern. Oder Flucht aus der wirtschaftlichen Misere, wie meist bei ausländischen männlichen Prostituierten. Die schönen jungen, oft heterosexuellen Männer ganzer Roma-Dörfer gehen, wie es Praunheim mit Hilfe von Sozialarbeitern aufzeigt, in Berlin anschaffen. Fluchtversuche sind es dann auch wieder, die die Jungs unternehmen, um aus der Welt des schnellen Geldes und des schnellen Elends auszubrechen. Die Endstation als möglicher Ausgangspunkt, die leise Hoffnung auf ein einfaches bürgerliches Leben.
Ein seltsamer Knotenpunkt ist der Bahnhof. Symbol und Manifestation des Zusammentreffens von alt und jung, von reich und arm, von spießig und exotisch, von schwul und heterosexuell. Die Welt des Bahnhofs ist ein Abenteuerspielplatz und ein Fleischmarkt, ein Dschungel des Begehrens. Praunheim lässt neben den Strichern auch Barbesitzer und Sozialarbeiter zu Wort kommen. Sie sind die desillusionierten Beobachter der Szene und gelegentliche aufopfernde Ausbruchshelfer.
Praunheims Film ist ein facettenreiches, aufrichtiges Werk. Wer kann das in Deutschland: einen sozialkritischen Film machen, der zugleich den Atem von Jean Genet, John Rechy und Pasolini spüren lässt? Kino, das ist für Rosa von Praunheim Leben.
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