Kritik zu Der Felsen
Eine Frau lässt sich treiben auf Korsika
Eine schillernde Behauptung hat Dominik Graf damit an den Anfang seines Films Der Felsen gestellt. Die Erzählstruktur - ein schlitzohriger Verkaufstrick; gleichzeitig ist die Geschichte des Straßenhändlers eine Art selbstgeschriebene Spielanleitung, der sich der Regisseur im Folgenden unterwirft. In der Beschränkung - auf Genrefilme, auf Fernseharbeiten - hat Graf in der Vergangenheit immer wieder erzählerische Freiheit gefunden. So wie ein Gefühl von Freiheit auch in der Vorstellung steckt, sich nur von einem Ding zum nächsten hangeln zu müssen - die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber natürlich entwickeln die Dinge auch ein Eigenleben. Und so wie Graf sie filmt, bekommen die banalen Urlaubsgegenstände - eine Postkarte etwa, ein Korallenring oder ein Bikini - ein ganz ungewohntes Gesicht.
Den Korallenring hatte Jürgen (Ralph Herforth) eigentlich seiner Frau gekauft, aber Katrin (Karoline Eichhorn) stiehlt ihn, als Andenken an ihre Liebe. Jürgen ist ihr Chef und war lange ihr heimlicher Liebhaber. Bei einem Urlaub auf Korsika wollten sie Abschied voneinander nehmen - Jürgens Frau ist schwanger, da kommt eine Scheidung nicht mehr in Frage. Statt der dosierten Ablösung aber gibt es eine abrupte Trennung. Katrin bleiben ein paar Tage allein auf der Insel. Eine Art Schleuse: der Verlust ist noch nicht ganz wahr, das neue Leben hat noch nicht begonnen. Katrin lässt sich fallen, in die Leere dieser Tage, die viele Möglichkeiten, aber keine Ziele bieten. Sie trinkt viel, erlebt ein sexuelles Abenteuer. Und sie begegnet dem 17-jährigen Malte (Antonio Wannek), der ihr Jürgens Ring stiehlt und sich in sie verliebt.
Ein Geflecht von Erzählungen liegt über den Bildern, eine männliche und eine weibliche Stimme. Sie erzählen die Urlaubsgeschichte wie etwas Schicksalhaftes. Die Bilder - mit der Mini-Digitalkamera gedreht - wirken dagegen leicht, beinahe flüchtig. Als drei Wochen vor Drehbeginn klar geworden sei, dass er sich das 35-mm-Material nicht werde leisten können, sei sein Kameramann Benedict Neuenfels auf die Idee gekommen, mit der "Ferienvideokamera" den Film zu drehen, hat Graf im Interview gesagt. Und dass er die Arbeit mit der handlichen Kamera als Befreiung erlebt hat - das spürt man in seinen Bildern.
Sie passen zur Urlaubssituation, passen sich vor allem aber Katrins Getriebenheit, ihrem emotionalen Taumel an. Wenn Katrin betrunken in ein nächtliches Abenteuer gleitet, gibt es keine scharfen Konturen mehr, sind auch die DV-Bilder flau. Die vermeintliche Zufälligkeit dieser Bilder täuscht, sie sind perfekt komponiert.
Mit Der Felsen hat Dominik Graf nach acht Jahren wieder einen Film fürs Kino gemacht. Auf der Berlinale war er heftig umstritten, bei den Deutschen Filmpreisen wurde er übersehen. Dabei gelingen Graf und seinem Kameramann Benedict Neuenfels nicht nur eine aufregende Nähe zu den Figuren, sondern auch eine ganz eigene Ästhetik mit der DV-Kamera. So gibt es etwa eine Szene in einem Unwetter, in der der Regen, der an den Scheiben eines Autos herunterströmt, einen wunderbaren shutter-Effekt hervorzaubert. Das trennende Glas zwischen Katrin, die im Auto sitzt, und Malte, der draußen steht, wird auf diese Weise betont, gleichzeitig aber auch zum Verschwimmen gebracht. Solche wunderbaren Momente gibt es viele. Und auch später spielt die Natur immer wieder eine besondere Rolle, wenn etwa Katrin, Malte und sein kleiner Bruder Kai in das karge, menschenleere Innere der Insel fliehen. In einer verzauberten Nacht finden die drei einen paradiesischen Frieden. Und es taucht kurz ein Fuchs auf, ein magischer Moment, wie in einem Traum.
Die Kamera bleibt meistens nahe bei Katrin. In ihrer Verletztheit, ihrem Trotz wirkt sie wie ein schönes, scheues Tier. Man mag keinen Augenblick wegschauen. Karoline Eichhorn, die für ihre Darstellung mit dem Bayrischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, ist gerade deshalb so ungeheuer präsent in diesem Film, weil sie so zurückgenommen spielt, ihre Figur dem Licht, den (Kamera-)Blicken und auch den Ereignissen so ausliefert. Ungeschützt, aber fast unverwundbar sieht sie aus, das leichte Sommerkleid über dem kräftigen sonnengebräunten Körper. Ihr Sich-treiben-lassen ist nicht ganz ungefährlich, ihr Trotz aber umgibt sie wie eine Hülle. Katrin wirkt stark, weil sie sich vormacht, gefühllos geworden zu sein.
Die Unverwundbarkeit ist natürlich eine Illusion, genauso wie sich Katrin auch in der Liebe viel vorgemacht hat. Man erfährt nicht viel über ihre Beziehung zu Jürgen, aber man ahnt, dass sie sich auch vor der Erkenntnis schützt, dass die Beziehung vielleicht schon länger keine Liebe mehr war. Auch das Abenteuer mit Malte ist von Katrin lange nicht wirklich ernst gemeint. Wie ein Amulett trägt sie ihr Rückflugticket in der Tasche.
Solche Halbherzigkeit gibt es in Maltes Leben nicht. "Brave New World" heißt das Camp, in dem er und sein Bruder untergebracht sind - ein Verweis sowohl auf eine Utopie wie auf eine Anti-Utopie. Das Camp ist eine Resozialisierungseinrichtung für straffällig gewordene Jugendliche, für Malte eine allerletzte Chance. Für ihn wäre die Felseneinöde im Zentrum der Insel ein Platz zum Bleiben gewesen. Es war kein realistischer Platz - "Sortie", Ausgang, steht schließlich an der für Malte bestimmten Tür.
Wir erfahren wenig über den Jungen. Katrin ist doppelt so alt wie er, und seine Zuneigung sucht vermutlich mindestens so sehr die Mutter wie die Geliebte. Von einen Wettstreit zwischen Katrin und Jürgens Ehefrau war am Anfang des Films die Rede, ein Wettstreit darum, welche der Frauen zuerst schwanger wird. Da schien das Kinderkriegen noch vor allem ein Wettbewerbsvorteil.
Antonio Wannek lässt Maltes Lebensgeschichte ahnen. Verletzungen, die nicht mehr gutzumachen sind, Misstrauen, Unberechenbarkeit und eine grenzenlose Sehnsucht nach Liebe liegen in seinem Blick. Die subtilen Charakterzeichnungen sind eine besondere Stärke des Films. Auch Ralph Herforth (als Jürgen) und Peter Lohmeyer in der Rolle des Camp-Leiters Robert gelingt es, in wenigen Szenen ganze Biographien anzudeuten. So spürt man Jürgens innere Leere und dass Robert seine Schützlinge hasst. Gleichzeitig wirkt der pädagogische Apparat, der hinter dem Camp steckt, ziemlich erschreckend.
Deutschland ist weit weg und doch immer präsent auf der Urlaubsinsel. Da wird eine ganze Gesellschaft zumindest erahnbar, die sich in Lebenslügen kuschelt, in der jeder aus Angst in seinem Schutzgebiet verharrt. Katrin wird gewaltsam daraus erlöst, da spürt man die Liebe des Regisseurs. Die Intensität und Experimentierfreudigkeit, mit der Graf seine Hauptfigur erkundet, ist ziemlich einmalig.
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