Kritik zu Darjeeling Limited
Statt einem hat Wes Anderson diesmal gleich zwei Filme gedreht, die ebenso zusammengehören wie die drei Brüder, die auf einer Fahrt durch Indien versuchen, die Familienbande neu zu knüpfen
Ein Mann in einer Hotelsuite. Das Telefon klingelt. Jemand wird kommen. Der Mann räumt auf und bestellt ein Essen aufs Zimmer. Er stellt seinen iPod an. Es erklingt ein Lied, das von einem Mann handelt, der eine Frau verstehen möchte: »I want to look inside your head.« Vor der Tür erscheint eine Frau. Sie kommt herein und stellt dem Mann Fragen. Wo er war, was er hier macht, wie lange er bleibt. Ob er sie noch liebt. Das Essen kommt. Der Song wird noch mal gespielt. Die Frau zieht sich aus und fällt mit dem Mann aufs Bett. Sie küssen sich. Der Song beginnt von neuem. Sie gehen auf den Balkon. Der Film ist vorbei.
»Hotel Chevalier«, so erfährt man im Abspann, ist ein Kurzfilm und zugleich der erste Teil von »Darjeeling Limited«. Verbunden sind die beiden Filme durch die Figur von Jack, der nun das Hotelzimmer verlassen hat und mit seinen Brüdern Francis und Peter im Zug durch Indien fährt. Die Reise hat Francis bis ins letzte Detail geplant, um die durch den Tod des Vaters entfremdeten Brüder erneut zusammenzubringen. Zu sagen haben sie sich wenig, meist streiten sie über Erbstücke oder Francis' Feldherrenart der Urlaubsplanung. Erste Begegnungen mit Indien gehen in die Hose: Francis wird ein Schuh geklaut, eine als Souvenir gekaufte Schlange erweist sich als giftig, ein Ritual mit Pfauenfedern hat nicht die erhoffte therapeutische Wirkung.
Wie »The Royal Tenenbaums« handelt auch Wes Andersons neuer Film von der Familie, von ihren Fliehkräften und der Macht, die sie im Innersten zusammenhält. Wie in »Die Tiefseetaucher« sind die Figuren in Bewegung geraten, doch ihre individuellen Manierismen kommen diesmal statt mit Fischen mit den Farben, Landschaften und Menschen einer anderen Kultur in Berührung. Die Bilder und Töne Indiens entfalten dabei eine ganz eigene Schönheit, aber ähnlich wie in Jean Renoirs »The River«, einem erklärten Vorbild Andersons, findet auch ein komplexer Austausch statt.
Allerdings nicht im angestrebten Sinne spiritueller Genesung: Eine Fülle von Missverständnissen führt dazu, dass die Brüder den Zug verlassen müssen. Nach und nach bewegt sich der Film in ernstere Gefilde: Francis, Peter und Jack werden Zeugen einer Totenfeier in einem indischen Dorf, ein Ereignis, das auf vielfältige Weise nicht nur mit der Beerdigung ihres Vaters ein Jahr zuvor, sondern auch mit einer ähnlichen Begebenheit in Renoirs Film korrespondiert.
Von der Aufmerksamkeit für jedes Detail und jeden Farbton her ist »Darjeeling Limited« ein typischer Wes-Anderson-Film, doch was ihn und seine Figuren von den vorherigen Filmen unterscheidet, ist eine größere Offenheit für äußere Einflüsse. Anders als in den »Royal Tenenbaums« ist die Komik weniger das Resultat unveränderlicher skurriler Verhaltensweisen und Ticks als vielmehr der in Szene gesetzten Erkenntnis, dass solche Macken nichts weiter sind als fragile Schutzwälle gegen die Zumutungen des Lebens. Auf der Ebene der Accessoires, mit denen sich die Figuren ihr sicheres Plätzchen auf der Welt ausstaffieren, herrscht in Andersons Film ständige Bewegung. Ob es sich nun um teure Gürtel, Medikamente, Songs, Schuhe oder sogar Charaktereigenschaften handelt - alles ist austauschbar, nichts ist Schicksal. Nicht mal die eigene Familie.
Anderson hat für sein Thema, das Zirkulieren familiärer Probleme, auch auf der visuellen Ebene ein schönes Äquivalent gefunden. Die Kamera bewegt sich meist, der Form eines Zugs entsprechend, entlang einer Seitwärtsachse oder schwenkt streng geometrisch im 45-Grad-Winkel. Dieses Schema sorgt für ein einheitliches Raumgefühl, schärft aber auch den Sinn für Figuren im Offscreen-Bereich, die durch präzise Schwenks oder Fahrten überraschend ins Bild kommen. Durch diese visuelle Methode entstehen einige der besten, weil unvorhersehbaren Gags und ein Gefühl für die vielfältigen Korrespondenzen zwischen Innen und Außen, Individuellem und Öffentlichem, von denen der Film handelt.
Diese Korrespondenzen sind das Geheimnis von »Darjeeling Limited« und der Schlüssel für Andersons Verständnis von Familie und Kino als offenen Systemen, die miteinander kommunizieren. Vielleicht hat er nur deshalb »Hotel Chevalier« gedreht: damit sich die Bilder und Töne des Films mit denen von »Darjeeling Limited« unterhalten können. Zum Beispiel durch den eingangs erwähnten Song, der auch in Indien wieder erklingt. Es handelt sich dabei um »Where Do You Go to My Lovely?« von Peter Sarstedt, einem britischen Sänger, der ursprünglich aus Indien stammte und 1954 mit seiner Mutter und drei Brüdern nach England reiste. Kurz vor ihrer Ankunft starb der Vater. Korrespondenzen, wohin man schaut und lauscht.
Eine weitere Verbindung ist das Gepäck Jacks, das genau wie das von Francis und Peter aussieht. Sie haben es von ihrem Vater geerbt. Überall folgt es ihnen hin, ein Berg von Habseligkeiten, ein schön designter Familienschatz. Oder eben einfach nur Ballast, den man irgendwann hinter sich lassen sollte. So viel Buddhismus muss sein.
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