Kritik zu Camille – Verliebt nochmal!
Die 40-jährige Camille ist in der Midlife-Crisis. An einem Silvesterabend entflieht sie all ihren Berufs- und Eheproblemen, indem sie einen Trip in ihre eigene Jugend unternimmt. Ein bizarr-komischer, aber auch philosophischer Zeitreisefilm von und mit Noémie Lvovsky
Das Leben wird vorwärts gelebt, aber es ist nur verständlich im Rückblick«, so lautet das Motto der soeben erschienenen Autobiografie des Starregisseurs William Friedkin. Dieser plakative und doch tiefsinnige Satz ist in Noémie Lvovskys neuem Film fast wortwörtlich zu verstehen. Gestern, heute und morgen vermischen sich ganz und gar in ihrer schrägen, oft albernen Komödie, die zugleich ernsthaft und poetisch über die condition humaine und die Kunst des Schauspiels und des Kinos reflektiert.
Noémie Lvovsky (Vergiss mich) führt hier nicht nur Regie, sondern spielt auch selbst die Titelrolle. Zudem trägt ihr Film durchaus autobiografische Züge. Lvovsky kombiniert also nicht nur die Zeitebenen, sie verquickt auch verwegen-spielerisch Fiktion und Realität. Im Grunde hat sie sich wohl einen großen Wunschtraum erfüllt: einmal Regisseurin zu sein im eigenen Leben.
Lvovsky spielt eine Schauspielerin von Anfang 40, die sich mit winzigen Rollen in billigen Horrorfilmen über Wasser hält. Im Beruf also ist unsere Heldin nicht gerade erfolgreich; im Privatleben sieht es noch düsterer aus. Ihr langjähriger Ehemann Éric hat sie für eine Jüngere verlassen, jetzt soll sie auch noch aus der einst gemeinsamen Wohnung ausziehen. Zu all dem Schlamassel gesellt sich ein handfestes Alkoholproblem. Ohne Zweifel, Camille befindet sich in einer Lebenskrise. An einem Tag wie Silvester wird diese besonders spürbar. Als auch noch ihre erwachsene Tochter lieber mit Gleichaltrigen feiern will, macht sich Camille angeschlagen auf den Weg zu einer Party ihrer alten Schulfreundinnen. Allmählich wird die Stimmung des Films märchenhaft: Noch vor der Party sucht Camille einen Uhrmacher auf. Mit dessen Besetzung ist Lvovsky ein Coup gelungen. Kein Geringerer als Jean-Pierre Léaud gibt diesen seltsamen Mechaniker der Zeit. Auf subtile Weise wird der Zuschauer durch Léauds magische Kinopräsenz auf das bald folgende Zeitspiel vorbereitet. Über das Bild des alten Léaud nämlich legt sich die Erinnerung an den jungen Léaud in den Filmen Truffauts. Dieser Akteur, alt und doch immer der junge Antoine Doinel, stellt Camilles Uhr ein – auf eine träumerische Kinozeit.
Auf der folgenden Party tanzt Camille mit ihren Freundinnen zum alten Hit »I’m walking on Sunshine«. Und dann, als das neue Jahr beginnen soll, fällt Camille in Ohnmacht. Als sie wieder erwacht, befindet sie sich in einer vertrauten, aber doch absolut fremden Welt. Sie erwacht in ihrer eigenen Jugend Mitte der 80er, kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Nena singt »99 Luftballons«, es herrscht noch Kalter Krieg in Europa, und die Jugendlichen spielen nicht an iPhones herum, sondern ziehen mit sexy Gesten Zigaretten aus den handlichen Schachteln. Camille ist in das Reich des jugendlichen Aufbruchs zurückgekehrt, das zugleich ein Reich der Gespenster ist. Sie ist wieder knapp 16, aber sie hat das Wissen der 40-Jährigen. Und sie weiß beispielsweise, dass ihre Mutter bald sterben wird.
Camille ist ein genuiner Zeitreisefilm, kein »body switch«-Movie à la Endlich wieder 18. Lvovsky spielt sich selbst als Jugendliche, was natürlich einen bizarren, aber auch reizvollen Effekt erzielt. So ist es schön zu beobachten, wenn die 40-jährige Lvovsky/Camille tatsächlich wieder wie ein Teenie aussieht, etwa wenn sie so hoffnungsvoll auf ihrem Rad durch die Stadt fährt. Die Jugend in den 80ern schildert Lvovsky jedoch nicht nostalgisch, sondern beinahe realistisch. Die Peinlichkeiten des Jungseins macht sie sichtbar, das Monströse der Pubertät, das Ungeheuerliche der großen Hoffnungen. Über die Vergangenheit mit den vielen schrägen und schrulligen Figuren legt sich der Schatten der Gegenwart, die schmerzliche Kenntnis von Verlusten.
Ein geradezu schwindelerregendes Gefühl, eine komische Vertigo-Stimmung, wie sie nur das Kino erzeugen kann, stellt sich ein, als Camille ihrem Ehemann als Teenager wiederbegegnet, ausgerechnet bei einer Schulaufführung von Goldonis »Die Verliebten«. Richtiggehend melancholisch wird der Film, wenn es um Camilles Beziehung zu ihren Eltern geht. In den berührendsten Szenen nimmt sie mit einem Kassettenrekorder die Stimmen ihrer einfachen, großartigen Eltern auf. Aufnahmen sind das, dem Tode abgetrotzt.
Seltsam und wehmütig ist schließlich Camilles Beziehung zu ihrem vereinsamten Physiklehrer, gespielt von Denis Podalydès, der für sie zu einem Pfadfinder zwischen den Zeiten wird. Diese Beinahe-Lovestory lässt Lvovsky ein wenig im Geheimen. Sie verleiht dem Film eine offene Struktur, die sich im Kopf des Zuschauers vervollständigen muss. So wie die Frage, wann wohl die Hoffnungen von Camille und uns allen in Enttäuschungen umgeschlagen sind. Und ob diese Kategorien überhaupt angebracht sind. Man mag diesen komplexen Film als märchenhafte, filmische Psychoanalyse sehen oder als feministische Commedia dell’Arte mit Science-Fiction-Touch. Oder als verrückte, melancholische Sommerkomödie.
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