Kritik zu Brother's Keeper

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Ferit Karahan siedelt sein kühl beobachtendes Freundschaftsdrama in einem Internat in der türkischen Provinz an. Die Bildungsinstitution wird zum Brennglas einer von starken Machtgefällen durchzogenen Gesellschaft

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4 (Stimmen: 2)

Wie ein Provinzinternat wirkt dieser Ort selten. Die Flure sind lang, die Kacheln in den Duschen, in denen sich drei Jungs gleich zu Beginn zur Strafe kalt abduschen müssen, kühl, die Heizung ist kaputt und der Umgangston rau. »Du Rindvieh«, wird ein Schüler vom Lehrer Selim (Ekin Koç) genannt. »Alle kriegen einen Kurzhaarschnitt!«, brüllt der diktatorische Direktor (Mahir İpek) bei einer Gesinnungsrede zu nationalen Idealen und rasiert einem Halbstarken, der frech war, vor versammelter Mannschaft einen Kurzhaarstreifen in die Kopfmitte. 

Man wähnt sich in Ferit Karahans Drama »Brother's Keeper« eher in einem Gefängnis als in einer Schule. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die Abgeschiedenheit der in Ostanatolien liegenden Einrichtung, durch das hartnäckige Schneetreiben bei Temperaturen von bis zu -35 Grad und formal durch die Tatsache, das Türksoy Gölebeyis Kamera das Treiben im engen 4:3-Format einfängt.

»Brother's Keeper« blickt mit kaltem Sozialrealismus und einem Hauch Groteske in den Mikrokosmos Internat, in dem türkische Lehrer:innen begabte kurdische Kinder unterrichten. Wir folgen dem kleinen Yusuf (Samet Yıldız), einem Antihelden mit kurzen Haaren und kastanienbraunen Augen, durch eine Tour de Force. Nachdem sein zwölfjähriger Freund Memo (Nurullah Alaca) die eingangs erwähnte kalte Dusche hinter sich hat, steht er nachts vor seinem Bett. »Darf ich heute bei dir schlafen?« Yusuf lehnt aus Angst vor dem Gerede der anderen ab und findet seinen Freund am nächsten Morgen kaum ansprechbar im Bett. 

Yusuf schleppt den bewusstlosen Memo durch die Flure und über den verschneiten Hof in die Krankenstation. Dort gibt es nichts als Aspirin. »Er hat kein Fieber«, heißt es immer wieder, während sich der Raum mit weiteren Lehrern, Mitarbeitern und dem Direktor füllt. Über allem schwebt die Frage: Was ist mit Memo passiert und wer ist schuld?

Im Kern ist »Brother's Keeper« ein Film über Machtgefälle. Die Lehrer drangsalieren, manche mehr, manche weniger, die Schüler und damit, stellvertretend, ein ganzes Volk. »Es gibt keine kurdische Region«, keift eine Geografielehrerin, als ein Schüler das Internat ebendort wähnt. Der Direktor wiederum sorgt für eine Atmosphäre der Angst und nutzt seine Machtstellung. 

Karahan hat Ähnliches im Sinn wie İlker Çatak in seinem meisterhaften Schul-Thriller »Das Lehrerzimmer«: Er verdichtet einen Tag in einer Bildungsinstitution und nutzt diese als Brennglas der Gesellschaft. Der türkische Regisseur arbeitet dabei allerdings im Unterschied zu Çatak weniger mit Thriller-Elementen, sondern beobachtet die Aufklärung des Falls kühl-distanziert. 

In der Kälte der Inszenierung liegt eine Kraft, zugleich bleibt dadurch vieles im Vagen, was dem Film etwas von seiner Dringlichkeit raubt. Eindrücklich ist »Brother's Keeper« dennoch, nicht zuletzt wegen Laienschauspieler Samet Yıldız und seinem eindringlichen Blick. 

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