Kritik zu Bloody Nose, Empty Pockets
1001 Zigaretten, ebenso viele Drinks, Rocknummern aus der Jukebox: Dieser Abend in einer Bar in Vegas fühlt sich an wie ein Realitätssplitter. Aber wahr ist in diesem filmischen Experiment an der Grenze der Gattungen eigentlich nichts
Wahrheit ist auch im Kino eine unfassbar komplexe Angelegenheit, vor allem im Bereich des Dokumentarfilms. Was soll das für eine Wahrheit sein, die Dokumentarfilmer*innen mit ihrem subjektiven Kamerablick einfangen und die sie mittels Montage in eine mal mehr, mal weniger nach narrativen Mustern verlaufende Erzählung gießen, in eine dramaturgische Form? Im besten Fall vermittelt der Dokumentarfilm eine gefühlte Wahrheit.
Dass Grenzüberschreitungen zwischen den Gattungen auf der Suche nach einer kinematografischen Wahrheit fruchtbar sein können, steht außer Frage; eine Annäherung zwischen Dokumentar- und Spielfilmen lässt sich seit Jahren beobachten. Doch kommt dann schnell auch wieder die alte Frage auf den Tisch: Was darf der Dokumentarfilm, wie viel Inszenierung ist erlaubt? Es gab in den letzten Jahren Filme, die selbstbewusst damit spielten, etwa Pia Hellenthals furioses Debüt »Searching Eva«. Durch Elke Lehrenkrauss' Dokumentarfilm »Lovemobil«, in dem die Regisseurin bewusst Inszenierungen nicht kenntlich gemacht hat, wurde diese Frage Anfang des Jahres breit in den Medien diskutiert.
Auch die Brüder Bill und Turner Ross sind Grenzgänger, und zwar produktive. Ihr Film »Bloody Nose, Empty Pockets« fühlt sich an wie ein Realitätssplitter. Der Film zeigt das Treiben am letzten Tag in der Bar »The Roaring 20s« in Las Vegas: die Abschiedsfeier einer Kneipenfamilie aus Kriegsveteranen, ehemaligen Schauspielern, glücklosen Gestrandeten. Wir sind mit ihnen dort, von morgens bis spät in die Nacht hinein bei schummrigem Licht, zwischen tausendundein Zigaretten, ebenso vielen Drinks, zwischen todtraurigen und lustigen Gesprächen, zwischen Tänzen zu Popkamellen und Rocknummern aus der Jukebox.
Doch was wie einfühlsames Direct Cinema in Reinform aussieht und sich bis auf wenige, farblich ausgeschossene Einstellungen von Straßenzügen in Vegas auch wie direktes, unmittelbares, dokumentarfilmisches Beobachten eines randständigen Mikrokosmos anfühlt, ist genau das im Kern nicht. Wir sind nicht in Vegas, sondern in New Orleans, der Heimat der Brüder, wo das »Roaring 20s« bis heute existiert, und die rauschfreudigen Menschen wurden allesamt gecastet. Die meisten sind Laien, einzig Michael Martin, der im Film quasi in der Bar wohnt, ist ausgebildeter Schauspieler. Er gibt auch im Film einen ehemaligen Schauspieler und ist eine Art Metastimme, wenn er Dinge sagt wie: »Wir erachten diese Wahrheiten für selbstverständlich.«
Wahr ist in »Bloody Nose, Empty Pockets« also eigentlich nichts, oder doch? Was für eine Wahrheit sehen wir, wenn Laiendarsteller ohne Drehbuch in eine Rolle schlüpfen und unfassbar authentisch, versorgt mit Rauschmitteln aller Art, einen Tag lang das Ende einer Kneipenära »spielen«? Es ist in jedem Fall eine gefühlte Wahrheit voller Leben, die die Gebrüder Ross ihrem Szenario entlocken. Allerdings stellt sich auch die Frage, was es für einen Film bedeutet, wenn er so stark von seinem Entstehungskontext abhängig ist. Ein eigensinniges filmisches Experiment mit doppeltem Boden.
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