Kritik zu Baldiga – Entsichertes Herz

© Salzgeber

2024
Original-Titel: 
Baldiga – Entsichertes Herz
Filmstart in Deutschland: 
28.11.2024
L: 
92 Min
FSK: 
16

In seinem neuen Dokumentarfilm porträtiert Markus Stein den früh verstorbenen Künstler und Fotografen Jürgen Baldiga, Chronist der schwulen Subkultur West­berlins zur Hochphase der AIDS-Krise

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In der queeren Szene Berlins ist er auch mehr als 30 Jahre nach seinem viel zu frühen Tod noch immer präsent. In Clubs und Bars hängen seine Bilder, der Nachlass findet sich im Schwulen Museum. Abseits davon ist Jürgen Baldiga noch zu entdecken, seine Fotobände seit langem vergriffen. Der renommierte Dokumentarfilmer Markus Stein (»Unter Männern – Schwul in der DDR«) bietet dazu mit »Baldiga – Entsichertes Herz« einen erhellenden Einstieg in das Leben und Schaffen, Denken und Fühlen eines Künstlers, der weder sich noch andere schonte. 

Wie wird man jemandem gerecht, der sich so radikal über seine kreative und persönliche Freiheit definiert, der Kunst und Leben in eins setzt wie Jürgen Baldiga? Markus Stein orientiert sich in seinem Porträt des 1993 verstorbenen Chronisten der schwulen Subkultur Westberlins an den vierzig Tagebüchern und mehreren Tausend Fotos, die mit ihrer direkten, oft expliziten Art beeindrucken. 

Im Januar 1979 kommt Baldiga in die Mauerstadt, kaum 20 Jahre jung, entflieht er der engen Provinz – in seinem Fall Essen – wie so viele vor und nach ihm, um sich als Sohn eines Bergarbeiters und ohne elterliche Unterstützung hier ein neues, freieres Leben aufzubauen. Er versumpft erst im Nachtleben, schlägt sich als Koch und Stricher durch, will aber unbedingt Künstler werden. Von Anfang an schreibt er. Notizen, Gedanken, Gedichte. Mit der HIV-Infektion, die 1984 ein Todesurteil war, beginnt er zu fotografieren, Freund*innen, Lover, Tunten. Und immer wieder sich selbst, später auch stark von der Krankheit gezeichnet. Wie besessen versucht er, mit Bildern die Zeit anzuhalten, das Leben einzufangen. »Ich bin an Menschen interessiert, die am Rande der Gesellschaft stehen und ihre Mitte gefunden haben«, hält er in einer der Kladden fest. 

Im Film liest ein Sprecher Passagen wie diese als Offkommentar, dazu sieht man Baldigas Fotos von Fummeltrinen und Fetischkerlen, aber auch Momentaufnahmen unbekannter Berliner*innen auf der Straße, deren Attitüde ihn reizte. Stein ergänzt sie durch Super-8-Filme aus dem Nachlass und durch Musikstücke, die Baldiga als Pionier Seriös aufgenommen hat (»Ich«, »Treiben«, »Schwanz-Disco«) und durch Aussagen von Weggefährt*innen und Szenegrößen jener Jahre wie Tima die Göttliche und Kaspar Kamäleon. Und Stein baut mit seinem Team das alte SchwuZ nach, den zentralen Ort der Westberliner Tuntenszene damals, um darin möglichst authentisch diese Zeit zu reanimieren. Zu Wort kommen nicht zuletzt Ärzte und Krankenschwestern, die sich an die tragische Hochphase der AIDS-Krise erinnern. 

So wird Steins Film auch zur bewegenden Erinnerung an den Kampf einer ganzen Generation schwuler Männer, den viele nicht überlebten. Baldiga macht seine Erkrankung als einer der Ersten öffentlich und zum Thema seiner Kunst, bis er 1993, nach einer Reise mit seiner letzten großen Liebe Ulf nach New York, seinem Leben selbst ein Ende setzte. Ein unabhängiger Freigeist bis zuletzt.

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