Der unsichtbare Stilist
Heute vor einhundert Jahren wurde Sidney Lumet in Philadelphia geboren. Beinahe hätte ich vergessen, dass er gar nicht aus New York stammte. Ein lässlicher Irrtum, denn er hat die besten New-York-Filme gedreht. Gegen ihn ist Scorsese ein Waisenknabe. Andererseits passte es, dass er in einer Stadt auf die Welt kam, die so entscheidend war für die Entstehung der Demokratie in Amerika.
Ich glaube, es gibt keinen US-Regisseur der Nachkriegszeit, der mir so viel bedeutet wie Lumet. Es tat mir gut, mit seinen Filmen aufzuwachsen: Sie waren aufrecht. Selbst wenn sie sich zynisch gaben, was mitunter tatsächlich vorkam, schien die Menschlichkeit dieses Regisseurs durch. Aus ihnen konnte ich viel über Justiz und Gerechtigkeit erfahren und über die Korruption amerikanischer Ideale. Schon im Teenageralter prägten sie mein Verständnis für das, von dem ich bald lernte, dass man es Zivilcourage nennt. Dank seiner Filme kannte ich in New York und mit seinen Bewohnern aus, obwohl ich beide erst Jahrzehnte später kennenlernte. Seine Filme lehrten mich auch, bestimmte Schauspieler zu schätzen, Henry Fonda, Sean Connery und Al Pacino. Das ging nur, weil Lumet selbst Schauspieler mit jeder Faser seines Herzens liebte. Auch meine Skepsis gegenüber dem Method Acting schürte er früh, wobei er etliche Parteigänger dieser Technik (Pacino, Paul Newman) zu ihren besten Leistungen führte.
Im letzten Herbst, als in Wien eine große Retrospektive lief, sollten wir "Falter"-Autoren unseren Lieblingsfilm nennen. Jeder nannte einen anderen. Meine Kollegen trafen eine exzellente Wahl: »Der Anderson Clan«, »Die 12 Geschworenen«, »Running on empty«, seinen letzten Film »Before the Devil knows you're dead«; sogar »Equus« war darunter. Nach langem Ringen entschied ich mich für „Fail Safe“ (Angriffsziel Moskau). An diesem Spektrum sieht man schon, was für unterschiedliche Filme er drehte. Mit der Autorentheorie konnte er nichts anfangen, den Stil gab für ihn die Geschichte vor. Ein guter Stil war in seinen Augen unsichtbar. "Form follows function" schreibt er in »Making movies« (Filme machen). Als ich in den letzten Tagen wieder einmal in dem Buch las, dachte ich: Teufel, wie viel kann man daraus lernen!
Ich kehrte immer gern zu seinen Filmen zurück. Sie gehen einem nicht verloren. Vor ein paar Monaten schauten mein Freund Heiko und ich uns »Serpico« an, den wir seit Jahrzehnten nicht gesehen hatten und er war ganz anders, als wir ihn in Erinnerung hatten. Wir waren angesteckt, danach wollten wir unbedingt seinen englischen Polizeifilm »Sein Leben in meiner Gewalt« sehen, der uns ziemlich verstörte. Einerseits weil der Regisseur ästhetisch absolutes Neuland betrat mit ganz verrückten Bildeffekten und einem neugierigen Blick auf die englische Vorstadttopografie. Und andererseits fragten wir uns: Connery entblößt sich in dieser heillos brutalen Figur so sehr, wie kann sich ein Schauspieler davon nur erholen? Lumets britisch-europäische Phase ist ohnehin höchst interessant. In »Ein Haufen toller Hund« begibt sich die Kamera in einen regelrechten Taumel, so sehr empört Lumet die Unmenschlichkeit, die in dem Straflager für renitente Soldaten herrscht. Vor ein paar Wochen sah ich für eine Retrospektive »Hundstage« nach langer Zeit wieder, mit seinem Audiokommentar. Lumets Kommentare sind ein riesiges, wenngleich monotones Vergnügen. Er lobt seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unaufhörlich ("a wonderful New York actress", "a superb actor, "a terrific writer"), hat zugleich einen eigenen Blick auf ihre Persönlichkeit. Man spürt in jeder Sekunde, dass ihm das Drehen ein diebisches Vergnügen bereitet haben muss.
Es gab und gibt immer noch klaffende Lücken - »Child's Play« fehlt mir noch, was besonders bedauerlich ist, da er mit James Mason so großartig bei »Anruf für einen Toten« Die Möwe« und »The Verdict« zusammengearbeitet hat. Eine Lücke immerhin schloss ich vor einer Woche, als die Nachricht vom Tod Anouk Aimées kam: das römische Melodram »Ein Hauch von Sinnlichkeit« (https://www.welt.de/kultur/kino/article252086750/Anouk-Aimee-Sie-hatte-den-Zauber-der-Unergruendlichkeit-Ein-Nachruf.html). Der entpuppte sich als ein Kabinettstück überwundener Ratlosigkeit (lauter expressive Aufsichten auf die Figuren), vielleicht hat er das Fremde des Sujets nicht vollständig durchdrungen – aber die blitzschnelle Anprobe der vielen Sonnenbrillen zeigt, dass er absolut verstanden hat, wer Aimée ist.
Der Mensch Lumet war noch beeindruckender als seine Filme. Jede Begegnung mit ihm war eine Lebenslektion, weil er ein so wachsamer Zeitgenosse war. Im September 1990 interviewten Lars-Olav Beier und ich ihn in Deauville (leider in einer größeren Gruppe) und er kam sofort auf den südfranzösischen Ort Carpentras zu sprechen. Dort war einige Monate zuvor ein jüdischer Friedhof geschändet worden. Ich bin sicher, er war der Einzige in einem Raum voller Europäer, dem diese Nachricht bekannt war. Die Zeitläufte verstörten ihn – in seiner Jugend, in den 30er Jahren, hätte er sich nicht träumen lassen, dass es noch einmal religiös motivierte Kriege geben könnte wie im Mittelalter. Seine Wertvorstellungen waren stets präsent, wenn er über das Kino sprach. „Ich habe den Eindruck, dass Ihre Generation für das Engagement eine Belohnung erwartet, einen Sieg“, sagte er zu uns. "Nach meiner Erfahrung ist das Leben anders. Doch das hat keine Bedeutung. Man kämpft nicht, um zu gewinnen, Sondern weil einen etwas verletzt, beleidigt, weil es gegen die Menschenwürde verstößt." Er war ein Humanist mit Resthoffnung.
Einige Jahre später begegnete ich ihm überraschend in einem privaten Rahmen wieder. Ich besuchte in Sag Harbor, an der Ostspitze von Long Island, den ehemaligen Kinderdarsteller, Editor und Regisseur Robert Parrish, über den ich eine Dokumentation für den WDR drehen wollte. Seine Frau Kathie hatte für den späten Samstagnachmittag eine Cocktailparty organisiert, zu der illustre Gäste erschienen, darunter Betty Comden (die Mitautorin von "Singing in the Rain"), der Regisseur Anthony Harvey (»Der Löwe im Winter«) und die Witwe des Schriftstellers James Jones (»Verdammt in alle Ewigkeit«), die sich freute, auf einen Europäer zu treffen (You love his books over threre“). Etwas später erschienen Lumet und seine Ehefrau. Ich hatte ohnehin vor, am folgenden Montag sein Büro aufzusuchen, denn ich wollte ihm den Interviewband geben, in dem unser Gespräch veröffentlicht worden war. Ich glaube nicht, das er sich an mich erinnerte, aber er nahm mich sofort unter seine Fittiche. "Wie viel Geschichte hier zusammenkommt!" schwärmte er. Ich dachte, er meinte die gebündelte Filmhistorie, die sich auf der Terrasse versammelte. Aber nein, er sprach von Sag Harbor und erzählte mit voller Ehrfurcht, wie bedeutend der Hafen einst für den Walfang an der Ostküste gewesen war. Übers Kino konnten wir immer noch am Montag sprechen.
Kommentare
Man lernt nie aus
Letzte Woche Richard Quine, diese Woche Sidney
Lumet. Man kommt kaum nach mit dem Sehen und merkt dann - das sind ganz wunderbare Empfehlungen eines Kenners.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns