Kritik zu Körper und Seele
Vor 28 Jahren, kurz vor dem Mauerfall, machte die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi mit ihrem Debütfilm »Mein zwanzigstes Jahrhundert« auf sich aufmerksam. Nur vier Spielfilme hat sie in der Zwischenzeit gedreht, gewann aber mit ihrem letzten prompt den Goldenen Bären der Berlinale in diesem Jahr
Die Kuh blickt uns direkt in die Augen. Dann wird sie in ein Gestell gesperrt, der Bolzenschuss ertönt, und der Metzger zerlegt das Vieh. Als wären diese authentischen Bilder aus dem Schlachthof nicht schon drastisch genug, steigt bald darauf die unglückliche Hauptfigur zum Liebestod in die Badewanne. Aus ihrer geöffneten Pulsader spritzt die Blutfontäne wie in einem Schocker von Dario Argento. Nein, das ist kein abgefeimter Splatterfilm, sondern eine berührend erzählte Liebesgeschichte, deren Titel Programm ist.
»Körper und Seele« heißt der Film, in dem es nicht etwa um verschwiemelte Esoterik geht, sondern um zwei Menschen mit einem bodenständigen Job. Endre (Géza Morcsány) leitet die Finanzen in einem Schlachthof in Budapest, in dem die introvertierte Maria (Alexandra Borbély) als neue Qualitätsprüferin die Arbeit aufnimmt. Ihre jeweils äußerlich sichtbaren Gebrechen sind Ausdruck einer seelischen Verletzung. Der nach seiner Scheidung allein lebende Endre hat einen gelähmten Arm, der ihn physisch einschränkt, aber auch als Kommentar zu seiner Virilität gelesen werden kann. Mit ihrem Asperger-Syndrom lebt Maria wie unter einer Glasglocke. Seine taktvollen Anmachversuche sind für sie Stress pur. Etwas Unkontrollierbarem wie Gefühlen kann die autistische Frau, die sich selbst von außen wie in einem Theaterstück beobachtet, nicht überlassen.
Als infolge eines Diebstahls eine Psychologin alle Mitarbeiter befragt, stellt sich heraus, dass Maria und Endre einander Nacht für Nacht begegnen: und zwar in ihrem gemeinsam geträumtem Traum. Dieses Motiv, bekannt aus der Amazon-Serie Fallen Water, wird hier mit einer überraschenden Konsequenz ausgereizt. Denn plötzlich erhalten jene zusammenhanglos erscheinenden Bilder eines Hirschs und einer Hirschkuh, die auf einem verschneiten Waldboden nach Futter suchen, ihren Sinn. Die beiden Tiere werden zu Subjekten der Handlung. Und deshalb fragt man sich: Träumen Maria und Endre gemeinsam davon, an einem anderen Schauplatz als Rotwild ein Paar zu sein? Oder verhält es sich umgekehrt? Träumen ein Hirsch und eine Hirschkuh davon, als Menschen im Schlachthof zu arbeiten?
Die friedlichen Bilder einer sich selbst überlassenen Natur und das beklemmende Szenario einer durchrationalisierten Fleischverarbeitung erscheinen als größtmögliche Gegensätze – die sich aber berühren und ineinander übergehen. Wie eine Ameise, die auf einem Möbiusband entlangläuft, führt der Film den Betrachter von der Natur zur Kultur und wieder zurück, ohne dass man die Grenze bemerken würde. Dass dieses philosophisch anmutende Konzept trotz eines gewissen Kitschfaktors aufgeht, liegt an Ildikó Enyedis ganz eigener Bildsprache, die man einst schon in ihrem Erstling »Mein zwanzigstes Jahrhundert« aus dem Jahr 1989 bewundern konnte. In Körper und Seele, ihrem großartigen Kino-Comeback nach fast 20 Jahren, gelingt ihr ein Kammerspiel im Schlachthaus, das noch einen Rest von postsozialistischer Tristesse ausstrahlt. Die Beobachtung der Arbeitswelt ist dokumentarisch präzise. Trotzdem erscheint das Szenario nie kalt und distanziert. Mit Spiegelungen, Schattenspielen und peripheren Blicken scheinen die Bilder ein geheimes Eigenleben zu führen.
Getragen wird der Film von den beiden Hauptdarstellern, besonders von Alexandra Borbély. Dank ihres radikal zurückgenommenen Spiels und den roboterhaften Bewegungen wird ihre fragile Erscheinung zur Projektionsfläche. Es mag bessere Filme über Autismus geben. Bei Ildikó Enyedi überzeugt jedoch die eigentümliche Mischung aus emotionaler Metaphysik und schwarzem Humor. Erklärt die blutüberströmte Maria ihrem Geliebten am Telefon, sie müsse noch etwas erledigen, »was eine Weile dauert«, dann sind diese drastischen Bilder eine Herausforderung für den Liebhaber des gepflegten Arthousefilms. Dank phantasievoller szenischer Erfindungen gelingt der ungarischen Regisseurin ein betörend schönes Werk, das buchstäblich den Traum entfesselt.
Kommentare
Schade eigentlich...
Der Film wurde am Anfang gerade durch die Details, die eher indirekt mit der handlungsarmen Geschichte zu tun haben, interessant, in erster Linie der Alltag im Schlachthof und die Suche nach dem Bullenpulver-Dieb. Die fast auschließliche Fokussierung auf die Liebesgeschichte und die beiden Hauptfiguren, hat m.E. den Film zum Ende langatmig werden lassen. Es hätten vielleicht nicht unbedingt 116 min werden müssen... Dennoch ein sehenswerter Film! ;-)
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns