Kritik zu Mommy

Trailer deutsch © Weltkino

Eine solch mitreißend Folie à trois hat es im Kino noch nicht gegeben: eine nonchalante Mutter, ihr ­hyperaktiver Sohn und eine traumatisierte Lehrerin verschwören sich gegen die Enge und Zumutungen des bürgerlichen Lebens

Bewertung: 5
Leserbewertung
3
3 (Stimmen: 2)

Würden wir Diane mit den Augen eines anderen Regisseurs betrachten, würden wir sie wahrscheinlich einfach nur vulgär finden. Vielleicht würde uns diese Vulgarität auch dann noch Vergnügen bereiten, aber gewiss nur ein weniger reiches, ein weniger komplizenhaftes. Wie sich Diane kleidet und schminkt, ist eine couragierte Herausforderung an den guten Geschmack. An ihrem wuchtigen Schlüsselbund hängt Kitsch aus diversen Epochen und Lebensaltern. Sie raucht wie ein Schlot, verträgt Alkohol in rauen Mengen und ist nie um eine patzige Antwort verlegen. Das melodiöse Kauderwelsch des Joual, der Mundart der Provinz Québec, spricht sie mit solcher Unverdrossenheit, dass es kaum einer ihrer Landsleute versteht.

Aber da wir Diane (Anne Dorval) mit den Augen Xavier Dolans betrachten dürfen, erscheint uns diese Vulgarität einnehmend, ja bezaubernd. Die Witwe ist auf Kollisionskurs mit der Welt, was gleich zu Beginn ein Verkehrsunfall demonstriert, von dem sie eine blutige Wunde davonträgt, der sie aber nicht von ihrem Weg abbringen kann. Sie muss ihren Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) aus einem Erziehungsheim abholen. Er leidet an ADHS, ist hyperaktiv. Sein Verhalten ist für die Institution untragbar geworden. Es stellt eine Bedrohung für ihn selbst und andere dar; der letzte Vorfall wird juristische Konsequenzen nach sich ziehen. Auch sein Auftreten ist ein Fehdehandschuh, der der Gesellschaft ins Gesicht geschleudert wird. Er ist 16 und akzeptiert keine Bevormundung mehr. Seine Mutter lebt ihm vor, dass man für sich einstehen muss.

Auch voneinander lassen sie sich nichts gefallen. Ihr Zusammenleben ist ein unermüdlich erbittertes Tauziehen, eine so lebhafte Zerfleischungsorgie, wie sie Dolan schon in seinem Regiedebüt I Killed My Mother inszenierte. Dass es sich mit unerträglichen Situationen leben lässt, zumindest für eine heroisch lange Frist, führten auch seine jüngsten Filme, Laurence Anyways und Sag nicht wer du bist!, vor. Den boshaften Einfallsreichtum des Lebens pariert Diane mit ruppiger Ironie. Sie ist kein Opfer. Denn sie und Steve lieben einander mit einer Heftigkeit, die sich landläufigen Kategorien des »Zu viel« entzieht. Ihre Beziehung vollzieht sich in einem Rausch, der ansteckend ist.

Diane ist nicht die alleinige Titelheldin des Films. Eine Nachbarin, Kyla (Suzanne Clément), lässt sich in ihre Zweisamkeit verstricken. Sie ist Lehrerin in einem selbst verordneten therapeutischen Sabbatjahr. Sie stottert, es kostet sie größte Mühe, gegenüber ihrem Mann und ihrer Tochter ein Wort über die Lippen zu bringen. In Dianes und Steves Gesellschaft gewinnt sie ihr Sprechvermögen zurück. Eine wechselseitige, dreifache Adoption findet zwischen diesen Außenseitern statt. Eingangs regt sich flüchtig eine erotische Spannung zwischen Steve und Kyla: ein Reflex schlechten Benehmens; diese Dreiecksgeschichte überschreitet weniger banale Grenzen. Kyla lässt sich auf sie mit dem klugen Instinkt einer Lehrerin ein, die sich Respekt zu verschaffen weiß. Die drei tun einander ungeheuer gut. Sie teilen das Hochgefühl, sich gegen die Enge und die Zumutungen des Lebens zu verschwören. Mit einem Mal weitet Dolan das erstaunliche, quadratische Bildformat, das dem Übermut des Film bislang einen Rahmen gab, aber keine Begrenzung.

Was diese Folie à trois zusammenhält, ließe sich erklären. Aber der Regisseur weiß, dass er damit ihre Magie bannen würde. Vielmehr beschwört Dolan, wie in Laurence Anyways, eine nervenaufreibende Utopie des Miteinanders. Die Unvernunft hat ein Recht, die Intuition kann nicht fehlgehen, wenn sie der Liebe folgt.

Der Freiraum der Anarchie darf intakt bleiben, bis die Stabilität des Dreiecks durch einen Verrat zerstört wird. Er ist unausweichlich und wird aus Gründen begangen, die allzu verständlich sind. Alle drei werden einen hohen Preis für ihn zahlen. Aber er muss nicht das Ende der Utopie bedeuten.

Meinung zum Thema

Kommentare

xavier dolan ist ein künstler. die schauspieler klasse. der gesamte film, ohne großartig spannend zu wirken, lässt einen in ruhe zusehen, ohne dass man das gefühl hat, einzuschlafen, in einer linie, über den ganzen film. das ist nicht einfach. das ende war unglaublich gut.

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