Kritik zu Laurence Anyways
In seinem dritten Film schildert das kanadische Regiewunderkind Xavier Dolan (I Killed My Mother) die Liebesgeschichte eines Paares, dessen männlicher Part sich entschließt, eine Frau zu werden
Laurence (Melvil Poupaud), der sanfte Literaturlehrer, und Fred (Suzanne Clément), die extrovertierte Regieassistentin, feiern im Montréal der späten 80er das perfekte Bohème-Leben. Vor allem feiern sie sich selbst, als Liebespaar mit der Lizenz zum Ausflippen. Wie ein Heiligenschein leuchtet in der Disco das Stroboskop hinter ihren Köpfen. Doch als Laurence seinen 30. Geburtstag feiert, ist erst mal Schluss mit lustig. In einem Alter, in dem andere Paare einen Bausparvertrag abschließen, gesteht er seiner Freundin, dass er sich seit jeher als Frau fühlt und fortan als Frau leben will. Freds Geschmack für ein unkonventionelles Leben wird ernsthaft auf die Probe gestellt.
Die sexuellen Implikationen des Geschlechtswechsels – oder ist es lediglich ein Kleiderwechsel? – werden in Xavier Dolans temperamentvollem Beziehungsdrama, das einen Zeitraum von 12 Jahren umfasst, nie erschöpfend ausgelotet. Auch herrscht in der Darstellung dessen, was Laurence will, und was Fred will, eine beträchtliche Unwucht. Das Hin und Her des Paares wird meist aus Laurence’ Sicht geschildert; Freds Reaktionen auf Laurence, der sein Coming-out gegen alle Anfeindungen durchsetzt und Trost bei Gleichgesinnten findet, gleichen denen einer verzweifelt um ihren Partner herumwirbelnden Tangotänzerin. Auf der Leinwand mag diese masochistische »große Liebe« Sinn machen, im wahren Leben eher nicht.
Davon abgesehen aber erweckt der »Drive« dieses dritten Films von Xavier Dolan eine ähnliche Euphorie wie die ersten Werke von François Ozon oder Pedro Almodóvar. Das 24-jährige Wunderkind vermittelt das Gefühl, dass es genau weiß, was es tut. In Dolans Kino der Emotionen gehen Musik und Ästhetik Hand in Hand und treffen direkt ins Herz. In einer Mischung aus Videoclip und Nouvelle-Vague-Flair veranschaulicht er, zwischen rauschhafter Romantik und bitterem Sarkasmus, welch tiefe Wahrheit hinter dem Spruch »Kleider machen Leute« steckt. In den schönsten und klügsten Szenen erscheint das Leben als individuelle Inszenierung der Identität, die sich im Wechselspiel zwischen Selbstermächtigung und gesellschaftlichem Feedback formt. So zäumt sich Fred wie ein Zirkuspferd für einen Filmball auf, dessen Gäste selbst in androgyner Aufmachung und Dragqueen- Make-up aufgerödelt sind. Untermalt von Elektronikklängen wird der Szenegeist der frühen 90er, die Durchlässigkeit zwischen maskulin und feminin wie sie zum Beispiel David Bowie vorgemacht hat, mit Laurence’ Verwandlung kurzgeschlossen. Eine Verwandlung, die von der Perlenkette bis zum knielangen Rock in ihrer Tantigkeit paradoxerweise das Gegenprogramm zur hennarot gefärbten Fred bildet. Die fortwährende Brechung der Rollen – so erscheint der sanftmütige Melvil Poupaud von Anfang an eher »weiblich«, während Suzanne Clément als laute, rebellische Fred den Männerpart in der Beziehung innehat, verleihen diesem Drama nicht nur eine anziehende Unbekümmertheit, sondern lang nachwirkende Aha-Momente.
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