Netflix und die Palmen
Auch bei einem altgedienten Filmfestival wie dem in Cannes – das in diesem Jahr sein 70. Jubiläum feiert –, zeigt sich, dass es immer wieder anders kommen kann. Statt dass der Eröffnungsfilm, Arnaud Desplechins »Les fantômes d'Ismaël«, gleich zum Auftakt dem französischen Kino Grund zum Jubeln verschaffte, fielen die Reaktionen auf das neue Werk des Cineastenlieblings eher zurückhaltend bis ablehnend aus. Und das, obwohl der Film mit Matthieu Amalric, Marion Cotillard und Charlotte Gainsbourg drei großartige Vertreter ihrer Zunft agieren lässt. Doch »Les fantômes d'Ismaël«, in dem Amalric einen Regisseur in der Krise verkörpert, verliert sich samt seiner Hauptfigur in vertrackten Bezügen aufs eigene Werk. Um den politischen Skandalen, die in diesem Jahr wie selten die Schlagzeilen aus Cannes zu überschatten drohen, vom Kino aus etwas entgegen zu setzen, reicht Nabelschau nicht aus, auch wenn er wie »Les fantômes…« außer Konkurrenz gezeigt wird.
Geradezu begrüßt wurde deshalb die Kontroverse, die in der üblicherweise höchst langweiligen Pressekonferenz der Jury losgetreten wurde. Bezogen auf die Auseinandersetzungen, die es bereits im Vorfeld des Festivals über die Rolle des Streamingdienstes Netflix gab, erklärte der in diesem Jahr der Jury als Präsident vorsitzende Pedro Almodóvar, dass er sich nicht vorstellen könne, einem Film die Goldene Palme zu geben, der nicht im Kino laufen wird. Stein des Anstoßes sind die beiden vom Netflix an die Croisette gebrachten und wohlgemerkt in den Wettbewerb akzeptierten Filme: »The Meyerowitz Stories« vom amerikanischen Indie-Regisseur Noah Baumbach, und »Okja« vom koreanischen Kultfilmer Bong Joon-ho. Beide sind hochkärätig besetzt – im Science-Fiction-Epos »Okja« spielen Jake Gyllenhaal and Tilda Swinton, in den »Meyerowitz Stories« treten Adam Sandler, Ben Stiller and Emma Thompson auf – und wahrscheinlich auch im Hinblick auf einen gut besetzten Roten Teppich für Cannes ausgewählt worden. Heftige Proteste von Seiten der Kinobesitzer hatten dazu geführt, dass das Festival eine Regeländerung verkündete, die allerdings erst ab nächstes Jahr gilt, nämlich nur noch Filme zu akzeptieren, die einen Kinostart haben werden. Aber was bedeutet Almodóvars Statement nun für das aktuelle Festival?
Einer seiner prominenten Ko-Juroren meldete denn auch gleich Widerstand gegen den spanischen Regisseur an: der amerikanische Schauspieler Will Smith nutzte die Gelegenheit für ein kleines Plädoyer Pro-Netflix: In seinem Haus habe sich Netflix als Segen erweisen. Als Beispiele führte er seine Kinder an, die sowohl ins Kino gingen als auch Filme streamten und denen Netflix mit seiner großen Auswahl die Möglichkeit gebe, insbesondere künstlerische Filme zu sehen, die im weiten Umkreis ihrer Kinos eben nicht laufen. Es ist ein Thema, das in jedem Fall Cannes in diesem Jahr beherrschen wird.
Doch wird es bei dieser rein filmpolitischen Kontroverse bleiben? Von den offen politischen Beiträgen der diesjährige Ausgabe feierte am ersten Festivaltag Vanessa Redgraves »Sea Sorrow« bereits Premiere. Die 80-jährige Schauspielerin, die sich zeit ihres Lebens politisch engagiert hat, setzt sich mit dem berührenden Dokumentarfilm für die größere Aufnahmebereitschaft Europas im Bezug auf Flüchtlinge ein. Mit historischen Verweisen auf die Erfahrungen in der Nazi-Zeit und knappen persönlichen Einblicken fordert Redgrave mit ihrem Film vor allem ihre Heimat Großbritannien dazu auf, sich zumindest den flüchtenden Kindern gegenüber großzügig zu zeigen. Ohne zu sentimental oder selbstbespiegelnd zu werden, gelingt Redgrave wenn auch kein großer Dokumentarfilm, dann doch aber ein effektives und packendes Plädoyer.
Weitere zur Kontroverse anstoßende Filme werden von »Shoa«-Regisseur Claude Lanzmann erwartet, der mit »Napalm« einen Dokumentarfilm über Nordkorea präsentiert. Außerdem wird mit »An Inconvenient Sequel: Truth To Power« Al Gore und die Klimapolitik eine Rolle spielen.
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