Berlinale: Ein ausgeglichenes Feld
So wie es mal war, wird es nie wieder werden. Diese zentrale Zeitdiagnose der Postpandemie gilt nun auch für die am Sonntag endende Berlinale. Zwar waren die Kinos voll, sammelten sich allabendlich Fans am Roten Teppich, und mit Steven Spielberg beteuerte einer der ganz Großen aus Hollywood seine Dankbarkeit für einen Goldenen Hommage-Bären. Aber wo früher das Herz des Festivals pulsierte, rund um den »Berlinale-Palast« am Potsdamer Platz, sind die Kino-Spielstätten inzwischen rar geworden. Wer Filme gucken will, muss durch die ganze Stadt fahren. Vor allem aber wird deutlich, wie sich im vierten Jahr der Direktion unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek die Programmauswahl verändert hat.
Unter ihrem Vorgänger Dieter Kosslick war die Berlinale ein entschieden bunter Laden, in dem nicht nur Filme aus aller Herren Länder, sondern auch unterschiedlichster Qualität und Ausrichtung ihr Plätzchen fanden. Man hat das oft als Mangel beschrieben: zu wenig zielgerichtete Auswahl, zu wenig echte vorausweisende Avantgarde. Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter hat dem entschieden abgeholfen. In der Tat machten vor allem die Wettbewerbsfilme dieser 73. Berlinale den Eindruck, dass man jeweils genau wusste, weshalb und wofür sie ausgewählt worden waren. Es ist ein präzis kuratiertes Programm. Ein Film von Steven Spielberg übrigens wäre darin nicht vorstellbar.
Zwar war mit einem Dokumentar- und zwei Animationsfilmen unter den insgesamt 19 Beiträgen die Genrevielfalt groß, auch an der Diversität der Themen – Tech-Unternehmen, Literaturverfilmungen, Krieg- und Krimi-Szenarien – mangelte es nicht. Sämtliche Filme überzeugten mit Ernsthaftigkeit und künstlerischem Anspruch – allein die pure Freude am Kino machte sich darüber etwas rar.
Das gilt einmal mehr besonders für die deutschen Beiträge, die sämtlich betont bildungsbeflissen daher kamen. Emily Atef mit ihrer Adaption »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« geht an die Rekonstruktion des Sommers von 1990 in der DDR-Provinz so kleinteilig und detailversessen heran, dass sie den großen Umbruch aus dem Auge verliert. Auch in Margarethe von Trottas »Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste« dominierte die sorgfältige Ausstattung mit den Kleidern und Accessoires der 50er und 60er Jahre das Geschehen dermaßen, dass die Figuren dahinter nie lebendig wurden. Und in Christian Petzolds »Roter Himmel« zitieren junge Menschen in den Ferien an der Ostsee-Küste im vorgeblichen Hier und Heute Heinrich Heine-Gedichte mit einer Selbstverständlichkeit, die sie dann doch wieder aus der Zeit gefallen wirken lässt.
Die deutschen Filme bildeten mit der akademischen Haltung sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart gegenüber aber keine Ausnahme im diesjährigen Wettbewerb. Weshalb es auch dieses Jahr so wenig klare Favoriten für die Bären-Vergabe gibt. Petzold als Regisseur könnte etwas gewinnen – sein »Roter Himmel« funktioniert als perfekte Parabel für die Gegenwart: Ein narzisstischer Schriftsteller ist so mit sich selbst beschäftigt, dass er nicht nur die herannahende Gefahr eines Waldbrands, sondern auch die Gefühle der Freunde, die ihn umgeben, kaum wahrnehmen kann.
Marlene Burow, die die Hauptrolle in Atefs »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« spielt, wird als Kandidatin für einen Schauspielpreis gehandelt. Ihre stärksten Konkurrenten in dieser Hinsicht sind zwei Kinder: Naíma Sentíes, die im Film »Tótem« der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés ein kleines Mädchen spielt, das im Trubel einer Geburtstagsfeier für den sterbenskranken Vater auf berührende Weise neue Realitäten erkennen lernt. Und Sofía Otero, die im spanischen Film »20.000 Species of Bees« ein Transmädchen verkörpert. Verdient hätte eine Auszeichnung jedoch auch die großartige Greta Lee, amerikanische Schauspielerin mit koreanischen Wurzeln mit ihrem Auftritt in Celine Songs »Past Lives«. Lee schlüpft in die Erwachsenenrolle einer jungen Koreanerin, die als Kind mit Familie auswanderte, Jahre später aber wieder mit einer Jugendliebe in Kontakt kommt, die sie über all die verpassten Lebens- und Liebesmöglichkeiten nachdenken lässt.
»Past Lives« könnte aber auch ein heißer Kandidat für einen Regie-Bären oder gar den Goldenen Bären sein. Aber tatsächlich erschien das Feld der möglichen Favoriten selten so eben und ausgeglichen wie in diesem Jahr. Für das nächste Jahr wünscht man sich allein schon deshalb etwas mehr Ausschläge, vor allem natürlich was die pure Freude am Kino angeht.
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