Berlinale: Ödipus trifft Ingeborg Bachmann am Ende der Nacht
Jetzt alles auf normal? In seinem vierten Jahr kann das Berlinale-Team um Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek endlich wieder richtig durchstarten: Corona-Auflagen gibt es nicht mehr. Mit einem für Berlin relativ schlanken Programm von knapp unter 300 Filmen wird die Stadt bespielt – Schließungen und Umbaumaßnahmen der Kinos am Potsdamer Platz haben einen Trend zur Dezentralisierung ausgelöst, was für das lokale Publikum durchaus ein Vorteil sein kann.
Carlo Chatrian, der fürs Künstlerische verantwortlich ist, sprach im Vorfeld von einer »Rückkehr der Realität«, einem starken Gegenwartsbezug, und zugleich von einem Kino der Poesie. Genau das, was man von der Berlinale erwartet: Arthouse-Kino mit politischem Touch. Im Wettbewerb mit 18 Filmen liegt der Schwerpunkt klar auf dem europäischen Autorenfilm.
Deutschland ist mit fünf Filmen dabei – überproportional oder stark wie nie? Das Line-up verrät jedenfalls eine gewisse stilistische Voreingenommenheit: Drei der Produktionen stammen aus dem Kreis der »Berliner Schule«, die für gemäßigtes Tempo und filigrane Bildkompositionen bekannt ist.
Christian Petzold zeigt den zweiten Teil einer Trilogie, die sich auf Motive der literarischen Romantik bezieht und auf der Berlinale 2020 mit »Undine« begann; »Roter Himmel« erzählt von vier jungen Menschen, die in einem Ferienhaus an der Ostsee von Waldbränden eingeschlossen werden. Angela Schanelec, die 2019 den Regiepreis für »Ich war zuhause, aber…« bekommen hat, beschäftigt sich in »Music« mit dem Ödipus-Mythos, Christoph Hochhäusler geht in einer Geschichte um einen verdeckten Ermittler »Bis ans Ende der Nacht«. Dazu kommen Margarethe von Trotta mit dem Frauenporträt »Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste« und Emily Atef mit der Verfilmung des Bestsellers »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« von Daniela Krien.
Zu den bekanntesten Vertretern aus dem Ausland gehören die Franzosen Philippe Garrel und Nicolas Philibert – mit dem einzigen Dokumentarfilm des Wettbewerbs –, der Australier Rolf de Heer, der Kanadier Matt Johnson und der koreanisch-chinesische Regisseur Zhang Lu. Der Portugiese João Canijo hat es mit zwei Filmen zum selben Sujet aus unterschiedlichen Perspektiven gleichzeitig in den Wettbewerb und in die Experimental-Sektion Encounters geschafft. Mit »Suzume« ist erstmals nach dem Berlinale-Sieg von »Chihiros Reise ins Zauberland« 2002 wieder ein japanisches Anime im Programm – Regisseur Makoto Shinkai ist bekannt für die Welterfolge »Your Name« und »Weathering with You«.
Soweit das »Normale«. Aber natürlich stehen auch die 73. Berliner Filmfestspiele im Zeichen einer Krise: Vor einem Jahr, am 24. Februar, begann der russische Überfall auf die Ukraine. Solidarität versteht sich – der Bären-Ansteck-Pin wird in Blau-Gelb ausgeliefert. Im Wettbewerb hat dieses akute Thema allerdings keinen Niederschlag gefunden: Filme aus der oder über die Ukraine muss man sich in den anderen Sektionen zusammensuchen – so etwa »W Ukrainie« im Internationalen Forum des Jungen Films, die Doku »Iron Butterflies« im Panorama, »We Will Not Fade Away« im Jugendprogramm Generation 14plus.
In der Reihe Berlinale Special wird der prominenteste Beitrag gezeigt: Der Schauspieler Sean Penn wurde bei den Dreharbeiten zum Dokumentarfilm »Superpower« über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom Krieg überrascht – und wird zweifellos Stoff für Diskussionen liefern. Ein weiterer politischer Schwerpunkt ist die Situation im Iran, einem Filmland, das seit langem im Fokus der Berlinale liegt und mehrere Gewinner hervorgebracht hat.
Die Schauspielerin Kristen Stewart, eine Grenzgängerin zwischen Kunstfilm und Blockbuster, sitzt der Jury vor. Davon abgesehen, werden Stars aus Hollywood eher jenseits der Bären-Konkurrenz erwartet. Die Hommage ist Steven Spielberg gewidmet, der wie kaum einer das US-Kino der vergangenen 40 Jahre geprägt hat: Neben seinem aktuellen Film »The Fabelmans«, der im März bei uns startet, laufen Hits wie »E.T.« und »Der weiße Hai«.
Die Retrospektive kommt mit einem erfrischenden, irgendwie auch optimistischen Konzept daher: Für die Reihe »Young at Heart« haben Filmschaffende von Tilda Swinton bis Martin Scorsese, von Maren Ade bis Abderrahmane Sissako Coming-of-Age-Klassiker ausgewählt, die sie persönlich besonders bewegt haben: ein historisch und geografisch wunderbar weit gespanntes Spektrum.
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