Berlinale-Abrechnung: Willkommen in der 2. Liga
Bei den Oscars hat Guillermo del Toro mit »Shape of Water« zu Recht triumphiert. Bereits im Herbst gewann der Mexikaner den Goldenen Löwen in Venedig. Von solchen Welthits kann die Berlinale nur träumen. Natürlich hat man einen Standortnachteil gegenüber den Festivals von Venedig, Toronto und Cannes, und seitdem die Oscars Ende Februar/Anfang März verliehen werden, bekommt man die großen Oscaranwärter nicht mehr. Dennoch ist es schon fast ein Affront, dass die Berlinale in der gesamten Zeit mit Dieter Kosslick an der Spitze also seit 2002, keinen einzigen Goldenen Bären mehr an einen amerikanischen Film verliehen hat.
So fällte die Jury 2014 die bisher schlimmste Fehlentscheidung, als man Richard Linklaters »Boyhood« nur mit einem Silbernen Bären abspeiste. Von einem A-Festival wie Berlin müssen Impulse ausgehen. Ein Hauptpreisträger sollte cineastisch heraus ragen und zumindest auch ein gewisses kommerzielles Potential in sich tragen. Der Umkehrschluss, man zeichnet einen kleinen Insider-Goliath aus, am besten einen völlig Unbekannten, der dann durch den Goldenen Bären auch sein Publikum findet, hat sich immer wieder als Rohrkrepierer erwiesen.
Goldene Bären müssen anscheinend in erster Linie politisch korrekt sein. Und so zeichnet man das unerhebliche südafrikanische Musicals »U-Carmen« und den bestenfalls durchschnittlichen Dokumentarfilm »Fuocoamare« im Jahr der Flüchtlingskrise 2016 aus – und in #MeToo-Zeiten musste es in diesem Jahr unbedingt eine Frau sein. In einem Jahr mit 19 Wettbewerbsfilmen, die aber nur von vier Regisseurinnen realisiert wurden, zeichnete die Jury zwei Filmemacherinnen mit den Hauptpreisen aus. Und anstatt der Polin Malgorzata Szumowska den Hauptreis zu verleihen, die seit Jahren politische und cineastisch relevante Filme dreht, setzte die Jury einmal mehr auf DEN Film mit dem nun wirklich NIEMAND gerechnet hatte.
»Touch me not« war der ärgerlichste und überflüssigste Film im Wettbewerb, ein ungenießbarer Arthouse-Europudding, gedreht auf Englisch. Die Regisseurin Adina Pintilie bauscht Banalitäten auf, gibt sich als provokant und bleibt nur öde, unsinnlich und überflüssig. Man darf erschlaffte oder erigierte Penisse und eine Masturbation sehen, wird auch sonst genötigt, auf der Leinwand Dinge mitzuerleben, die man nicht freiwillig sehen mag. Dieser Goldene Bär wird »Touch me not« auch nicht zu einem Zuschauererfolg werden lassen – bisher hat das Werk nicht einmal einen deutschen Verleiher. Die Liste der Berlinale Sieger mit weniger als 30.000 Kinozuschauern ist eigentlich schon peinlich lang genug. »U-Carmen« war kaum messbar, »Cäsar muss sterben« kam auf 8750, Zuschauer, »Tropa de Elite« auf 10. 000, und »Eine Perle Ewigkeit« auf 28 000 Zuschauer. Da sind die 40 000 zahlenden Besucher für »Grbavica« oder über 80.000 für »Körper und Seele« schon etwas positiver.
Das Problem der meisten Hauptpreisträger ist einfach: zu kleine Filme, die mit einem zu wichtigen Preis beglückt werden, der aber durch anhaltende Nichtbeachtung durch das Publikum immer mehr an Wert verliert. Hinter dieser Summe von Fehlentscheidungen verbirgt sich immer derselbe missionarische Eifer einer Jury, ein unerträgliches Sendungsbewusstsein und die snobistische Ablehnung gegenüber dem klassischen Erzählkino oder großen Namen. In den letzten fünf Jahren der ungeliebten De-Hadeln-Ära gewannen immerhin so bedeutende Filmemacher wie Milos Forman, Walter Salles, Paul Thomas Anderson, Terrence Malick und Patrice Chéreau.
Als Kosslick übernahm, schien sich diese Riege guter Namen durchaus fortzusetzen. Die ersten Bärengewinner waren ex-aequo Hayao Miyazaki und Paul Greengrass, später kam immerhin auch Fatih Akin hinzu, dessen Film »Gegen die Wand« ursprünglich nur im Panorama laufen sollten. Und hierin liegt das weitere hausgemachte Problem der Berlinale. Viele überdurchschnittlich gute Filme wie »Call me By your Name«, »Broken Circle Breakdown« oder »Geh und Lebe« werden zu Publikumslieblingen in einer Nebensektion. Oft erkennt man auch einfach nicht die Zeichen der Zeit. Unter den von der Berlinale für den Wettbewerb abgelehnten Filmen befinden sich die späteren Oscarpreisträger »Das Leben der Anderen« oder »Son of Saul«. Aber es hat natürlich auch unter Dieter Kosslicks Leitung immer wieder gute Filme und auch einige würdige Berlinale Sieger gegeben. Darunter sind die beiden Goldenen Bären für das iranische Kino 2011 mit »Nader und Simin« und vier Jahre später für »Taxi Teheran« und die Hauptpreise an Ildiko Enyédi und Fatih Akin.
Wenn die Berlinale nicht nur ein bedeutendes Publikumsfestival bleiben will – und das sind Rotterdam und Karlovy Vary auch –, dann muss der Wettbewerb wieder die besten, verfügbaren Filme zeigen, die sich formal klar von den Nebensektionen Forum und Panorama abgrenzen. Es kann einfach kein Kriterium sein, stur auf »Weltpremieren« zu pochen, obwohl die Berlinale laut Reglement durchaus auch »internationale Premieren« zeigen darf. Warum sollen französische, amerikanische oder italienische Filme nicht schon in ihren eigenen Ländern angelaufen sein, wenn es bessere Werke sind als eine qualitativ schwächere Welturaufführung? Warum werden Filme wieder ausgeladen, wenn der Hollywoodstar sein angekündigtes Kommen plötzlich widerruft? Und warum zeigt man, wenn man schon so fetischistisch auf Weltpremieren schielt, regelmäßig amerikanische Produktionen, die bereits vor der Berlinale in Sundance liefen ?
Im nächsten Jahr endet die Ära Kosslick. Ähnlich wie der »lame duck« Obama am Ende seiner Amtszeit plötzlich völlig entspannt wichtige Dekrete unterzeichnete und noch einige schöne Akzente setzte, könnten Kosslick und seine Auswahljury mal einfach auf alle Kritiker, Geldgeber und ewigen Nörgler aus der Branche pfeifen und einfach ihre Lieblingsfilme zeigen ohne Proporz, ohne faule Kompromisse und bitte ohne politische Korrektheit. Dann wäre Dieter Kosslick endlich mal wieder für einen echten Paukenschlag gut. Die Berlinale braucht im Wettbewerb endlich wieder Diversität und ein cineastisches Feuerwerk.
Kommentare
Berlinale 2018
Besinnungsaufsatz eines Filmfreaks.
Nachlese Berlinale 2018
Die Berliner Filmfestspiele waren immer schon mehr als die Summe der Filme die an den zehn Tagen der ‘Berlinale’ gezeigt wurden. Am Anfang (1951) war das Festival eindeutig nicht mehr als ein Zeichen, den Lebenswillen der bedrohten ‘Frontstadt' West-Berlin zu dokumentieren, finanziert mit knapp 12 000.- Mark aus der Portokasse der amerikanischen Militärregierung. Die Stars zeigten sich auf dem Ku-Damm den vergnügt kreischenden Autogrammjägern, ein ganzer Festival-Tag wurde nur zu Ringelpietz und Dampferfahrten auf der Havel genutzt - das Festival fand noch im Sommer statt, anfangs gab es Publikumsabstimmungen, auch Großveranstaltungen in der Waldbühne. Die große Welt zu Besuch in der Stadt hinter dem Eisernen Vorhang. Die Qualität der Filme war weniger wichtig.
Zum eigentlichen Filmfestival von Rang wurde die Berlinale in den Sechzigern, 'La Notte' von Antonioni gewann 1960, zweiter Preis für 'Außer Atem' von Godard, der sogleich auf Cannes schimpfte, das Ihn und andere ‘übersehen’ habe. Filmkunst rückte ins Blickfeld, es gab ja genug davon, die Cinematographie überwand gerade endgültig die Nachkriegszeit (und ‘Opas Kino’), formte ein neues filmisches Vokabular, ‘Neue Wellen’ überall, in Frankreich, Polen, Ungarn, CSR, u.a. Fettlebe für die noch nicht so zahlreichen Filmfestivals, die damals anders als heute seltener waren als gute, interessante Filme. Die drei A-Festivals (Berlin, Venedig und Cannes) waren Nutznießer. Kutschierte Anfang der Sechziger Friedrich Luft seine Interviewpartnerin Agnes Varda noch für ein Interview in einem offenen Corvette-Cabriolet die Havelchaussee entlang, wich der fröhliche Zirkus bald einem fast heiligen Ernst. Polanski, Skolimowski, Antonioni, alle kamen und der Dauergast Godard schimpfte öffentlich darüber, dass die Teilung der Stadt das Ergebnis der politischen Verwirrungen ‘dreier alter Männer’ war, die in Potsdam nach dem Kriege die Welt aufgeteilt hatten, ohne an die Menschen zu denken. Die Sechziger, die beste Zeit der Berlinale für Cineasten. Friedrich Luft warf das Handtuch.
Anfang der Siebziger folgte der öffentliche Krach um die Juryentscheidungen und den Film ‘O.K.', es folgte das Internationale Forum des Jungen Films, das Festival wuchs und wuchs. Aber noch gab es genug Stoff, genug gute Filme für das ständig anwachsende Programm, auch genug Alternativen zum ‘Großen Kino’, nicht selten lief das Forum dem Wettbewerb des Rang ab. Dann die Verlegung des Festivals auf den Winter-Termin (auch weil das langsam schwindende Angebot im Sommer bereits von Cannes (Mai) und Venedig (September) abgegriffen wurde). Dass es an Stars zu fehlen schien versuchte man mit dem Begriff ‘Arbeitsfestival’ zu kaschieren. Den Cineasten hätte das recht sein können aber die Suche nach guten Filmen wurde schwieriger. Öffnung nach Osten, der sogenannte Ostblock beteiligte sich, das konnte ein paar Jahre lang das Interesse am Festival wieder stärken, dann Entdeckung neuer Filmländer, China vor allem, Iran, auch das ging ein paar Jahre gut und unterschied die Berlinale von Cannes und Venedig. Schließlich aber zogen die nach, machten alle A-Festivals Jagd auf dieselben Filme, der Stoff wurde knapp, bemerkenswerte Filme wurden immer seltener. Gab es anfangs zwanzig Festivalfilme bei der Berlinale, dann hundert, dann hundertfünfzig, sind es heute fast 400, nur wirklich Sehenswertes gibt es kaum noch. Die weniger angesehenen B-Festivals wie Hamburg und San Francisco, Toronto und Melbourne, you name it, waren plötzlich im Vorteil, konnten sie doch - anders als die sog. A-Festivals - Filme nachspielen, die auf anderen Festivals oder in den Kinos ihrer Entstehungsländer schon Erfolg gehabt hatten. Das A-Festival Berlinale, schließlich unter Dieter Kosslick (ab 2002) zu einem immensen und unübersichtlichen Gemischtwarenladen herangewachsen, konnte aber inhaltlich unmöglich mithalten. Die unaufhaltsame Kommerzialisierung des Internationalen Kinos auch in den ehemals sozialistischen Ländern nach den Wendejahren der frühen Neunziger ließ Filmkunst im klassischen Sinne immer weniger zu. So ist das heute, wenn das gesamte Filmjahr zehn gute Filme in die Kinos bringt, hat man Glück gehabt.
Wenn man jetzt nach deutlicherem Profil der Berlinale verlangt, betrifft das vor allem die Auswahl für den Wettbewerb. Dass in der Vergangenheit manch interessanter Film abgelehnt worden war, z.B. ‘Das Leben der Anderen', geschenkt. Aber so was wiederholt sich, die Auswahl wirkt eher zufällig und von filmfremden Erwägungen geleitet, nach dem Motto, wenn schon nicht Qualität, dann wenigstens Aufsehen. Warum lief eines der unbestreitbaren Meisterwerke dieser Filmfestspiele 'An Elephant sitting still' nicht im Wettbewerb sondern im Forum (das übrigens ansonsten ähnliche Probleme hat, das überbordende Filmprogramm sinnvoll zu füllen) ? Dafür aber der nur halb durchdachte Therapie-Film ‘Touch me not’ ? Mann könnte feststellen: es mangelt an Filmverstand und/oder an Mut denselben programmprägend einzusetzen. Aber welche Rolle spielt das überhaupt ? Wäre es nicht klüger, cineastische Ansprüche an die Berlinale endgültig aufzugeben, besonders da sie beim besten Willen kaum erfüllbar sind ? Seit Jahren beklagen die Fachleute das bedingungslose Aufblähen des Festivalprogramms. Aber die Kinos sind voll. Selbst der gefürchtete malayische Vorstadtfilm mit französischen Untertiteln (Beispiel) ist gut besucht, auch das verquasselte Uni-Selbstfindungs-Projekt aus Kalifornien, auch die Abschlussarbeit an einer entlegenen Filmschule im fernen Asien. Alles läuft, wie besoffen trotten die Berliner und Ihre internationalen Gäste in fast jede Vorstellung. Filme, die schon zwei Wochen nach dem Festival im Kino keine Chance mehr hätten werden überrannt. Und Dieter Kosslick ? Schon im zweiten Jahr seiner Festivalführung beantwortete er Fragen nach der überbordenden und erschlagenden Vielfalt von Unerheblichem im Programm, dass die Berliner Taxi-Innung das aber ganz anders sehe. Also: Die Berlinale ist ein ‘Event' und als solches ein Pfund für die Leute, so wie etwa Paris Hilton berühmt ist dafür berühmt zu sein, für nichts sonst. Das genügt offenbar.
Schönes Schlamassel. Soll man den Berlinern Ihre Berlinale nehmen, weil nicht genug Filmkunst verfügbar ist ? Selbst ein leicht rückwärts gewandter Filmspezi kann das nicht wirklich verlangen. Der Wettbewerb muss ernster genommen werden, wer Promis bringt, wer Schlagzeilen bringt (und Verzweiflung der Kritiker) wie der Bären Gewinner 2018, das darf keine Rolle mehr spielen. Und es würde auch helfen, wenn die Jury ihre Arbeit ernst nimmt, filmische Qualität belohnt und sonst nichts. Die diesjährige Bären-Entscheidung für ’Touch me not', offenbar stark motiviert von MeToo-getriebener Auto-Sensibilisierungs-Disziplin, ist geeignet, der Berlinale nachhaltig zu schaden. Wer will da in Zukunft noch sein Meisterwerk ins Rennen schicken (wenn es nicht andernorts bereits abgelehnt wurde) ?
Denn das ist der Witz: Die Berlinale kann in keiner möglichen Form den Ansprüchen genügen, die Cineasten an sie stellen, vielleicht muss sie das auch gar nicht. Wenn aber dieser Anspruch verloren ginge, das 'Event Berlinale' ausschließlich zum beliebigen Kinozirkus sich bekennen würde ? Die Berliner sind sehr begeisterungsfähig, gern wird hier gejubelt (im Guten wie im Schlechten), gern wird mitgemacht, deshalb läuft die Berlinale, das darf ihnen niemand nehmen. Und sie brauchen den Anspruch offenbar nicht. Aber ganz ohne ihn, würden sie dann noch in Scharen herbeieilen, wäre es dann nicht vorbei mit den Warteschlagen, dem Gedränge, mit dem Beifall selbst nach zähesten zwei Stunden Studentenkino, mit der wohligen Trance nach drei, vier Filmen pro Tag, zehn Tage lang ? ‘Filmkunst’ !? Adelt nicht der kulturelle Anspruch die Chose auch für die, die gut ohne denselben leben können ? GOOD LUCK !
Geschenkt
Dass die Berlinale nicht die späteren Oscar-Gewinner bekommt, geschenkt, Das sie manchen, später erfolgreichen Film übersieht und nicht einlädt, geschenkt, aber dass die Bärenvergabe dann (fast) immer nur nach gesellschaftlichen/politischen Kriterien erfolgt, das stört mich enorm. In dem Artikel werden ja ein paar Beispiele genannt und die Liste könnte man verlängern.
Auch dieses Jahr waren im Wettbewerb einige gute Filme, Transit wäre hier z.B. zu nennen, die gänzlich ignoriert oder nur in Nebenkategorien bedacht wurden. Das ist doch der eigentliche Skandal. Da wird der Silberne Bär an einen völlig unbekannten französischen Darsteller vergeben - er sei ihm gegönnt - und die hervorragenden, um nicht zu sagen eindrücklicheren Leistungen anderer Darsteller werden gänzlich ignoriert. Was waren da die Kriterien? Die Begründung bei der Verleihung war ja nicht gerade originell.
Es ist schon fast Tradition, dass ich mich über die Vergabe ärgere und ich frage mich jedes Mal, was die Jury umtreibt. Bei dem Versuch, Filme, die neue Wege im Kino aufzeigen oder politisch brisant wirken, auszuzeichnen, geht scheinbar ziemlich oft der Qualitätsanspruch verloren. Schade!
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