...und die trägt er im Gesicht
Zu dem Zeitpunkt, als Staudte seine "Dreigroschenoper" drehte, hatte er noch nicht aufgehört, das zeitgeschichtliche Gewissen des deutschen Nachkriegsfilm zu sein, zugleich aber bereits erste Signale gesendet, dass er sich auch auf reibungslose Unterhaltung verstand.
Von dem Schauplatzrealismus, den man 1963 noch mit ihm assoziieren durfte, gibt es hier indes keine Spur mehr. Alles wurde komplett im Studio gedreht. Hein Heckroths Szenenbilder delirieren geradezu in ungenierter Bühnenkünstlichkeit. Er war erst ein paar Jahre zuvor aus dem Exil in London zurückgekehrt, wo er mit Powell & Pressburger einige Kabinettstücke in diesem Register geschaffen hatte, namentlich "Hoffmanns Erzählungen" und die Theaterpassagen in "Die roten Schuhe". In der "Dreigroschenoper" ist jedes Dekor gemalt, keine Illusion aus Gips und Holz, sondern ein Spiel mit dem Bühnenhaften. Es ist ein verhangener Film, allerorten filtern durchsichtige Vorhänge den Blick auf das Geschehen. Das ist nicht das London der spät-viktorianischen Ära, sondern eine farbenfrohe, ahistorische Interpretation. Heckroth hat auch die Kostüme entworfen, mit der gleichen folkloristischen Freizügigkeit. Die feuerrote Dahlie in Mackies Knopfloch ist geradezu obszön groß. Überhaupt: ein Farbfilm über Bettler? Daran nahm seinerzeit nicht nur Lotte Lenya Anstoß.
Staudte geht an die Herausforderung unverdrossen selbstbewusst heran. Natürlich kannte er die Erstverfilmung von G.W. Pabst aus dem Jahr 1931, die in der BRD 1955 erneut und erfolgreich als Reprise herausgekommen war. Sie ficht ihn nicht an;, auf die Frage nach Notwendigkeit und Legitimation des Remakes antwortet er pragmatisch mit den ästhetischen Mitteln, die ihm nun zu Gebot stehen: Farbe und Breitwand. Ob die Armutsvision von Brecht & Weill noch zeitgemäß ist in Zeiten bundesdeutscher Vollbeschäftigung, raubt ihm nicht seinen Elan, der wohl auch einer robusten Gleichgültigkeit geschuldet ist. Nun, mit der Rahmenhandlung, in der zeitgenössische Bettler in Soho mit dem alten Stück hadern, war er ja nicht durchgekommen. Die Frage der Werktreue hat Staudte auch rasch entschieden: Das Drehbuch, das er mit Günther Weisenborn geschrieben hat, hält sich angeblich viel enger an die Bühnenvorlage. Nun muss man mit Brechts "Rüpelstück" (Staudte) nicht zwangsläufig schonungsvoll umgehen. Aber bei ihm ist immerhin mehr Kurt Weill zu hören als 1931. Da muss man indes differenzieren. In der deutschsprachigen Version, die Papst drehte, kam nicht einmal die Hälfte der Songs vor. Für die zeitgleich entstandenen französischen Fassung "L'oera de quat' sous" gilt das nicht, da sind Weills vertrackte Melodien zusätzlich als Filmmusik eingesetzt, was ihr eine andere Dynamik gibt: Sie ist schneller, anschmiegsamer, braucht zehn Minuten weniger als die deutsche. Sie ist übrigens auch heller, lichter. Während der durchaus statuarische Rudolf Forster sich in Schatten bewegt und ins Dunkel getaucht ist, wirft Rudolf Arno Wagner viel mehr Scheinwerferlicht auf sein leichtfüßigeres französisches Pendant Albert Préjean. Es hat etwas für sich, wenn Guido Altendorf sie die "sympathischere" nennt. Faszinierend an beiden ist jedoch ihre ausgesprochene Vertikalität, das Spiel mit dem Oben und Unten, mit immensen Höhenunterschieden, die von sehr tiefen Treppen unterstrichen werden. Pabst' Film spielt fürwahr in der Unterwelt.
Staudte setzt dem eine komplizierte Horizontale entgegen. Sein Film schöpft den Proszeniumblick aus, den ihm das 'Scope eröffnet. Mitunter bricht er diesen in kunstvollen Diagonalen auf, in Auf- und Untersichten der Akteure, die nicht selten direkt die Kamera adressieren. Das Verhältnis zwischen Figuren, Dekors und Requisiten ist nicht ganz so pointiert wie bei Pabst und seinem Szenenbildner Andrejew, aber auf eigene Weise spannungsvoll. Staudtes Kameramann war der Franzose Roger Fellous, der sich bis dahin vor allem als Tüftler profiliert hatte. Er setzte als erster im französischen Kino einen Zoom ein und entwickelte die visuellen Möglichkeiten des Franscope-Formats weiter.
Fellous war womöglich ein Oktroy des französischen Co-Produzenten, des "Comptoir d'expansion cinématographique" (CEC), aus deren knappem Portfolio eigentlich nur „Die Dreigroschenoper“ herausragt. (Nun ja, die entsetzliche "Mühle der versteinerten Frauen mit Pierre Brice hat dennoch ihre Fürsprecher.) Dieser kinematographischen Expansion dürfte auch die Besetzung Lino Venturas zu verdanken sein, der Mackies Kriegskameraden und Komplizen "Tiger" Brown spielt. Ventura wirkt eingangs ein wenig unbeteiligt in der Rolle des Polizeichefs von London, fast sogar ein wenig verloren in dem darstellerischen Europudding. Mit Schnauzbart und schwarzem Monokel erinnert er an Rastapopoulos, den finsteren Widersacher von Tim und Struppi. Aber irgendwann bringt er doch ein stoisches Charisma in die Chose. Die Szenen mit Gert Fröbe, das Schachern zwischen Bettlerkönig und Staatsgewalt, machen ihm sichtlichen Spaß. Großes Schauspielkino ist hier ohnehin nur sporadisch zu entdecken. Das muss auch nicht sein. Im Stück von Brecht & Weill Bei Brecht geht es nicht darum, Charaktere in vollem Relief zu zeichnen, sondern markante Figuren, die nicht zur Identifikation einladen. So stößt Curd Jürgens amüsiert an seine Grenzen, Hilde Hildebrand gibt Mrs. Peachum als eine erfreuliche Vettel. Die Rolle ihrer Tochter Polly gerät June Ritchie reichlich treuherzig.
Auch die Tanzszenen sind nur hinreichend schwungvoll. Der Name des Choreographen Dick Grace war mir vorher unbekannt; er hatte danach eine kleine Karriere beim deutschen Fernsehen. Hinreichend ist hier aber durchaus genug, denn die eigentliche Choreographie liegt in Staudtes Mise-en-Scène, die Menschen und Massen eigensinnig bewegt. Das Franscope nutzt er als Resonanzraum, muss nur selten Schnitte setzen, kann dafür mit langen Plansequenzen arbeiten. Leider kommt es bei Staudte nicht zu der großartig verstörenden Konfrontation zwischen Königin und dem Mob der Bettler, die sich brüsk in Pabst' Film begegnen: ein kurzes Duell der Blicke, in dem Hass und Überraschung aufblitzen.
Wo bleibt bei alledem Brechts Verfremdungseffekt? Hildegard Knef kommt im Bonusmaterial klug darauf zu sprechen. Vielleicht er im Kino doch nur eine Mesaillance, denn die Unmittelbarkeit, die die Kamera schafft, widerspricht ihm. Um ihn zu erhalten, sagt sie, muss man eine "gläserne Wand" errichten. Brecht mochte Pabst' Adaption überhaupt nicht, dabei ist es ein Film, der sich selbst ständig kommentiert. Mit ihrem Auftakt unternimmt Staudtes "Dreigroschenoper" jedoch einen beherzten Schritt auf dieses Terrain, mit dem Auftritt von Sammy Davis jr als Moritatensänger.Guido Altendorf vermutet, auch der war ein Oktroy. Es funktioniert erstaunlich gut, dass er die englische Version singt - immerhin ist das Setting ja Soho. Seine Interpretation ist unerhört schmissig, obwohl sie ganz langsam anhebt. Toll, wie er aus "seven – children" fast einen Binnenreium macht. Sie geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Streng genommen müsste meine heutige Überschrift also "..and he keeps them pearly white" lauten.
Die Moritat ist übrigens nicht sein einziger Beitrag zu dieser "Dreigroschenoper". In der US-Version, die Joe Levine herausbrachte, tritt er als Zeremonienmeister auf, der in die "Threepenny Opera" Stück einführt, sich zwischendrin immer wieder lässig einmischt und am Ende das Bühnenbild pfeifend verlässt. Diese Erzählebene müsste durchaus im Sinne Brechts sein. Wer diese Rahmenhandlung inszeniert hat, konnte nicht einmal Guido Altendorf herausfinden (der Levine-Nachlass in der Boston University gibt darüber keine Auskunft), ebenso wenig wie den Namen des Cutters, der diese Version mit großer Lust am Massaker montiert hat. Jäh wird in die Szenen und ihre Chronologie eingegriffen, Lino Ventura verschwindet fast völlig, auch andere Figuren ergeben überhaupt keinen Sinn mehr dank der tollkühnen Ellipsen. Das hat ein Flair von hemmungsloser Avantgarde. Staudte und sein Produzent erfüllte blankes Entsetzen, als sie dieses Blutbad sahen. Ich kann sie verstehen, bin aber doch froh, dass ich es im Bonusmaterial entdecken durfte.
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