Exzentrisches Wohlbehagen
Heute startet bei uns »Buñuel: Filmemacher des Surrealismus«, den ich im aktuellen Heft erstaunlich wohlwollend besprochen habe. Auf einen Aspekte, der nichts zur Sache des Films tut, aber von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis des Künstlers ist, will ich hier näher eingehen: Don Luis war ein überaus schöpferischer Genussmensch.
Auch in diesem Bereich der Lebensäußerung bewies er eine robuste Exzentrik, zuweilen gar den anarchischen Geist des Surrealismus, der schließlich ein Projekt der ästhetischen und sittlichen Entsicherung war. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn in der Folge von Ritualen die Rede ist, die eigentlich Ausweis einer unbestreitbaren Verbürgerlichung sind. In seinen Memoiren »Mein letzter Seufzer« widmet er dem Thema ein eigenes Kapitel, das er »Irdische Vergnügen« nennt. Im Wesentlichen beschäftigt er sich darin mit dem richtigen, angemessenen, würdigen, ja dem formvollendeten Alkoholgenuss. Er stellt klar, dass es ihm dabei stets nur um einen leichten Rausch geht, ein ruhiges Wohlbehagen, und keineswegs um Trunkenheit. Im Zentrum dieses Vorhaben steht der englisch Gin, nur der versetzt ihn in jenen erhofften Zustand der Träumerei, in dem die Phantasie beflügelt wird und verheißungsvolle Ideen gebiert. Bei manchen Schilderungen gerät der wackere Atheist in nachgerade religiöse Verzückung. Das Kapitel ist eine einzige psychologische Tiefenbohrung.
Intensiver beschäftigt habe ich mich dieser Facette des Regisseurs, als ich einen Essay über ihn für die Publikation der Berlinale-Retro 2008 schrieb. Es inspirierte mich nachhaltig, dass ihm und seinem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière die Apéritifstunde heilig war. Fortan strukturierte sie auch den Ablauf meines Arbeitstages, wenngleich ich sie etwas später als das Gespann ansetzte. Sein Lieblingsgetränk nicht nur für diese Gelegenheit, sondern ganz allgemein war der Martini Dry. Nicht von ungefähr war er stolz darauf, sein eigenes Rezept in »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« untergebracht zu haben. In den kurzen Wegen zur Filmgeschichte in der Oktoberausgabe von epd Film empfiehlt Jannek Suhr ihn als Einstieg in Buñuels Werk. Darin kulminiert für mich auch der kulinarische Zug in seinem Kino – mein Lieblingsmoment wird beflügelt von dem komplizenhaften Spott, mit dem er einen der Großbürger großspurig erklären lässt: "Um eine Hammelkeule zu tranchieren, muss man aufstehen, aus Respekt sozusagen."
Zurück zum Dry Martini. Dessen Zubereitung forderte seine volle Aufmerksamkeit und Hingabe. Sie folgte ehernen Regeln. Auf Maßeinheiten verzichtete Bunel hingegen listig. Gin, Gläser und Shaker mussten bereits seit 24 Stunden im Eisfach kühlen. An die Konsistenz der Eiswürfel stellte er besondere Anforderungen, sie mussten besonders hart und kalt (exakt 20 Grad minus) sein, damit sie nicht vorzeitig schmelzen, denn "nichts ist schlimmer als ein feuchter Martini". Der Vermouth, vorzugsweise ein Noilly Prat, durfte nur kurz mit ihnen in Berührung kommen. Danach schüttete er ihn fort.
Diese Etappe der Zubereitung hat meinen Freund Binh, der seinerseits ein begnadeter Martini-Mixer ist, immer empört: Ein Regisseur könne sich diese Verschwendung wohl leisten, ein Filmkritiker aber nicht. Immerhin konnte ich ihn nach einigen Jahren dazu bewegen, dem Vermouth einen Spritzer Angostura beizufügen. Auf dem bestand der strenge Buñuel nämlich. Alles andere war für ihn Ketzerei. Das Problem des schmelzenden Eises löste Binh später, als er sich eine Art Thermo-Shaker zulegte. Selbstredend beschäftigte es auch mich. In der Regel bereite ich das Ritual vor, indem ich Gläser und Shaker im Kühlschrank aufbewahre. (Mein Kühlfach in Berlin ist zu klein, in Herford kommen zumindest die Gläser eine Weile in die Tiefkühltruhe; der Shaker stellt hingegen eine gewisse Komplikation dar, denn er lässt sich nicht so leicht aufschrauben, wenn er gefroren ist.) So oder so habe ich stets das Gefühl, Buñuels Ansprüchen nicht zu genügen.
Dass er selbst einen eigenen Cocktail kreierte, beeindruckte mich natürlich tief. Er gibt sich da bescheiden, aber dessen Name verrät doch einigen Erfinderstolz: der Buñueloni. Dafür variiert er den berühmten Negroni. Die Hauptrolle fällt selbstredend dem Gin zu. Anstelle des bitteren Campari verwendet man einen Vermouth aus Mailand namens Carpano, der auch als Punt e Mes bekannt ist. Damit hat es eine hübsche Bewandtnis: »Ein Punkt und ein halber« meint die Notierungen an der Mailänder Börse, in deren Umfeld der Apéritif zunächst Verbreitung fand. Er ist natürlich lieblicher als Campari, was jedoch dadurch ausgeglichen wird, dass statt eines Vermouth Rosso ein Hauch trockener Vermouth (sofern vorhanden, aber man muss ihn beim Mixen des Dry Martini ja nicht ausschütten) hinzukommt. Garniert wird der Cocktail nicht mit einer Zitronenzeste, sondern einer Orangenschale, die dem Ganzen noch mal ein anderes Aroma verleiht.
Patentieren lassen konnte Buñuel sich seine Kreation wohl nicht, ebenso wenig wie Graf Camillo Negroni bzw. dessen Erben. Es fallen also keine Tantiemen an. So avancierte der Buñueloni für lange Zeit zu meinem Lieblingscocktail. Noch immer genieße ich ihn regelmäßig. Nach jedermanns Geschmack ist er nicht. Eine Kollegin, der ich ihn einmal servierte, fand, er schmecke nach Medizin. Das fand ich etwas ungerecht, denn über meinen Negroni beschwerte sie sich nicht. Bei der nächsten Gelegenheit ersetzte ich den trockenen Vermouth durch einen milderen Bianco. Aber auch das neue Rezept überzeugte sie nicht. Es war vergebens – und Ketzerei obendrein.
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