Ein Reisender in Geschichten
Wie wurde vor einigen Jahrhunderten der Preis für Gemälde bestimmt, als die Auftraggeber noch Königshäuser, Adlige oder reiche Kaufleute waren und der Markt nicht heutigen Konjunkturen gehorchte? Möglicherweise gab es ja durchaus objektive Kriterien, nach denen sich ihr Wert errechnen ließ.
Für das Malen der Hände verlangte er mehr, erklärt Jean-Claude Carrière, als er vor einem Frauenporträt von Francisco de Goya steht, die Füße von Frauen hingegen malte er zum Vergnügen. Diese doppelte Buchführung von Handwerk und Vorliebe amüsiert ihn zweifellos. Große Künstler verstehen einander.
Der französische Drehbuchautor hat den spanischen Maler ohnehin schon seit Jahrzehnten ausgiebig studiert. Die Blicke seiner Figuren verfolgen ihn, er setzt seine Zwiesprache mit ihnen kontinuierlich fort. Carrière ist mithin ein trefflicher Gewährsmann, um Goyas Schaffen beinahe umfassend zu ordnen und interpretieren. Dem Vertrauten nähert er sich mit der ihm eigenen, nimmermüden Neugier. Seine Reise zu Goyas Bildern und Wirkungsstätten ist womöglich das womöglich letzte Erkenntnisabenteuer dieses Weltbürgers des Geschichtenerzählens. Er starb im Februar 2021. Der Film, den José Luis López-Linares über diese Reise drehte, gehört mithin zum Nachlass des schaffensfreudigen Carrière (wie »Le grand Chariot«, der jüngste Film von Phlippe Garrel, an dessen Buch er noch mitwirkte), und er mutet an wie ein Vermächtnis. In »Goya, Carrière and the Ghost of Bunuel« schöpft er aus einem Lebensvorrat der Beobachtungen, Einsichten und Geschichten. In Berlin ist er im Rahmen von DOKUARTS zu sehen und ich hoffe, dass er hier zu Lande bald auch anderswo zu sehen ist, sei es auf einem Festival oder auf einem öffentlich-rechtlichen Kultursender.
Carrière fungiert als Co-Autor und Protagonist des Dokumentarfilms und ist letztlich auch dessen Thema. Es ist ein Vergnügen, ihm beim Bilderlesen zuzuhören und zuschauen. Seinen ersten oder grundsätzlichen Eindruck weiß er auf eine einfache Formel zu bringen. "Ein Bild des Glücks" sagt er über Goyas Tableau der Landarbeiter, die sich lachend auf Strohballen ausruhen, um sodann interpretierend ins Detail zu gehen: Das Schloss links im Hintergrund repräsentiert die Macht, aber der turmhohe Stapel der Ballen überragt es diskret im rechten Vordergrund – und die Heugabel, die in der Mitte emporragt, könnte für die Revolution stehen. Carrière begegnet Goya auf intime, kennerhafte Weise. Die großen Künstler sehen etwas in uns, sagt er, das wir selbst nicht sehen.
Allerdings werden alle drei (genau genommen vier) Titelfiguren in López-Linares' Film in ihr Recht gesetzt. Das ist dessen köstliches Problem: Er hat so viel Stoff zu verhandeln, er weiß gar nicht, wo anfangen und aufhören soll. »Goya, Carrière and the Ghost of Bunuel« geht in alle Richtungen, die sich ihm eröffnen. Er mäandert frohgemut, aber maßvoll. Zerstreut wirkt er nicht, immerhin folgt seine Struktur lose den Schaffensperioden Goyas, die im spanischen Ancien Régime (wo er als Hofmaler reüssiert) beginnen und sich auf dem Weg in ein neues Zeitalter (zumal angesichts der Napoleonkriege) zunehmend verdunkeln. Besonders berührt ihn, dass Goya der große Zeuge Spaniens war, obwohl er seit 1792, seit seinem Unfall in Sevilla, taub war. Sein Blick wird so scharf, sagt Carrière, er braucht nicht mehr zu hören.
Der Film hat gleichsam ein dreifaches Rückgrat. Bunuel schrieb in jungen Jahren ein Drehbuch über seinen Landsmann aus Aragon, das er jedoch zu biographisch fand und deshalb verwarf. Carrière sagt dazu: "Es ist so schwer, einen Film über einen Maler zu machen." Ob er dabei an »Goyas Geister« denkt, den er mit Milos Forman schrieb und der überall auf der Welt ein Desaster war (nur in Formans Heimat nicht, wo die tschechischen Kinogänger 2007 allerdings sowie sehr patriotisch gestimmt waren). Dieser Geist wird partout verschwiegen ihm Film. Stattdessen ist Goya kurz in Carlos Sauras Film über sein Exil in Bordeaux zu sehen. Und das Zitat von Goyas "El Tres de Mayo" (der deutsche Titel ist ungleich ausführlicher: "Die Erschießung der Aufständischen am 3.Mai 1808") in „Das Gespenst der Freiheit“ fehlt nicht, wo Bunuel und sein Produzent zwei der Hinzurichtenden verkörpern. Drehbuchautor Carrière stand nicht im Schussfeld. Er ist der Überlebende, der im Film den Tod der Anderen bedenkt und insgeheim wohl auch den eigenen. Zum Schluss verabschiedet er sich feierlich von den zwei Majas (die eine nackt, die andere nicht) und fragt sich, ob sie nicht doch nur eine ist. Seine Neugier fand kein Ende.
PS: In »Goyas Geister« erfährt man, wie viel er zusätzlich für das Malen von Händen berechnete: 2000 Reales für eine, 3000 Reales für beide.
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