Brunnen der Tugend
Seit Anfang des Jahres trage ich ein Bild aus seinem letzten Film ständig bei mir. Es ziert eine kleine Karte, die exakt in mein Portemonnaie passt. Von Zeit zu Zeit schaue ich sie mir an. Auf der Vorderseite ist ein Brunnen aus seiner Geburtsstadt Porto zu sehen, der das Motiv des Trailers ist, den er im letzten Jahr für die Viennale gestaltet hat (mehr dazu in meinem Eintrag vom 29.10.). Auf der Rückseite steht der Miniaturkalender zu sehen, den das Wiener Festival jedes Jahr verschenkt. Ich glaube, den habe ich seither noch nicht konsultiert. Meist weiß ich, welches Datum wir haben. Nein, die kleine Karte dient mir als Talismann. Sie mahnt mich zur Gelassenheit.
Nun bekommt sie eine andere Bedeutung. Es ist das geschehen, was man schlicht für unmöglich hielt: Manoel de Oliveira ist gestorben, in einem Alter, das man biblisch schon nicht mehr nennen kann: mit 106 Jahren. Wirklich begegnet bin ich ihm nur einmal. Damals war er noch keine Legende und ich noch kein richtiger Filmkritiker. Im Forum der Berlinale stellte er 1987 seinen Film Mein Fall vor und ich wollte ihn interviewen für eine kleine Zeitschrift, die es längst nicht mehr gibt. Zum ersten Mal war ich auf diesen rätselhaften Regisseur aus Portugal wurde ich aufmerksam durch ein Porträt, das Anfang der 1980er in der Filmzeitschrift "Film Comment" zum US-Start von Das Verhängnis der Liebe erschien, der dort Doomed Love hieß. Fortan war er für mich der Doomed-love-Man, wie ihn der Autor des Artikels kurzerhand getauft hatte. Der Film lief tatsächlich einige Jahre später zu nachtschlafender Zeit in der ARD. Er handelt von vielen Dingen, die einen jungen Mann intrigieren können, den es zum Kino drängt: Sehnsucht und Ehrgeiz, eine Skepsis gegenüber den eigenen Ambitionen und der Fragilität von Talent. Sein Erzählstil war mir fremd.
Als wir uns trafen, hatte er die Hälfte seines Werks noch vor sich. Das konnte damals niemand ahnen. Vor mir stand ein eleganter älterer Herr, hinter dessen Brillengläser zwei Augen wachsam und verschmitzt funkelten. Er merkte bestimmt, dass ich sein Werk kaum kannte, weil ich und immer nur auf zwei Filme zu sprechen kam. Sein Selbstbewusstsein war groß genug, um darüber hinwegzusehen. Er hatte Geduld mit meiner naiven Wissbegier. Meine Fragen waren ein willkommenes Trampolin für ihn. Alle Welt würde gerade erst erkennen, was er schon lange wisse, versicherte er mir: dass die wichtigste Quelle des Kinos das Theater sei. Ich solle mir nur Alain Resnais' Mélo anschauen, der habe das auch begriffen.
Seine Dolmetscherin schimpfte zwischendurch mit mir ("Besonders gut kennen Sie sich im portugiesischen Kino aber nicht aus!"); es amüsierte ihn, ihr dabei zuzuschauen, ohne zu wissen, was genau sie sagte. Später, als ich ihr die Zeitschrift schickte, war sie voll des Lobes. Sollte es in diesem Beruf etwa hilfreich sein, ein wenig hochzustapeln, fragte ich mich damals.
In deutschen Kinos ergab sich selten die Gelegenheit, sich besser mit ihm vertraut zu machen. Die Möglichkeit dazu bot sich eher im Fernsehen. Ich nutzte sie. Nun war mir sein Stil nicht mehr so fremd. Viele Jahre später habe ich ihn noch ein, zwei Mal in Paris erlebt. Er war extra zur Wiederöffnung der Cinémathèque angereist und staunte über deren neues Zuhause, das Frank Gehry entworfen hatte. Wenn es ihn genierte, dass er nun eher für sein Alter als für seine Filme bekannt war, ließ er es sich nicht anmerken. Er war immer zur Stelle wenn es galt, das Kino zu feiern, das nur ein paar Jahre älter war als er selbst.
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