Zeitenwende
In den letzten Tagen und Wochen hat sich hier zu Lande wohl jeder, der das entsprechende Alter hat, darüber Gedanken gemacht, was er vor 25 Jahren erlebt bzw. getan hat und was ihm durch den Kopf ging. Auch ich habe einigermaßen präzise, wenngleich bemerkenswert irrelevante Erinnerungen an den Herbst 1989. Den Abend des Mauerfalls verbrachte ich im alten Arsenal-Kino in der Welser Straße. An das Programm kann ich mich nicht mehr erinnern – angeblich liefen Experimentalfilme, wie heutige Mitarbeiter vor einiger Zeit rekonstruierten, aber das entsprach weder damals noch heute so recht meinem Geschmack -, weiß aber noch genau, wie Erika Gregor den Kinogängern beim Herauskommen die Nachricht von der Öffnung der Grenze unterbreitete.
Als ich mir überlegte, einen Eintrag zur Filmreihe "Zwischen Berlin und Paris" zu schreiben, die seit gestern im Berliner Zeughaus-Kino läuft, kramte ich eine Mappe mit Notizen hervor, die ich vor langer Zeit über den Schauspieler Ivan Mosjukin anlegte. Die kleine Retrospektive behandelt das europäische Exil weißrussischer Filmemacher in den 1920er Jahren und ist unwillkürlich ein Mosjukin-Festival.
Das vorrevolutionäre Kino war eine unglaubliche Offenbarung für mich. Es bedurfte der Rehabilitierung, weil bis dahin nur das sowjetische Montagekino als heroische Epoche der Filmgeschichte gefeiert wurde. Es war ein Kino, das überwunden werden musste. Selten steckte in einer Legende so wenig Wahrheit. Die Strahlkraft dieses Kinos verdankte sich in hohem Maße seiner Stars, also Mosjukin, seiner Frau Natalja Lissenko und einer anderen großen Diva, Vera Cholodnaja. Das westeuropäische Exil sollte nicht weniger glanzvoll sein, zumal in Frankreich, wo die expatriierten Weißrussen in den 1920ern die wunderbare Produktionsfirma Albatros gründeten. Dank seines hypnotischen Blicks, modernen Körperspiels (es hat viel mit Keatons Athletik und Tempo gemeinsam) und anmutig entschlossenen Profils wurde Mosjukin zu einem der größten romantischen Stars des französischen Stummfilms. Abel Gance – ja, im Augenblick ergeben sich ständig Anknüpfungspunkte zwischen meinen Einträgen – wollte ihn für die Titelrolle in Napoleon, aber er lehnte ab, denn den könne nur ein Franzose glaubhaft spielen. Seine französische Filmographie prunkt dennoch mit Glanzrollen. An diesem Wochenende (14. und 15. 11.) läuft das prächtige Serial La maison du mystère (Das geheimnisvolle Haus). Und seine Interpretation von Jules Vernes "Michel Strogoff" (Der Kurier des Zaren, 16.11.) ist auch nicht zu verachten.
Einer der tollkühnsten Filme dieser Epoche läuft leider nicht im Zeughaus. Ich meine L'angoissante aventure (Das furchterregende Abenteuer, 1920), dessen englischer Titel viel bezeichnender ist: A narrow Escape. Denn er wurde kurzerhand auf der Flucht gedreht, entstand in den Etappen Jalta, Konstantinopel, Athen, Marseille und schließlich Paris. Das Drehbuch wurde unaufhörlich umgeschrieben und den sich wandelnden Schauplätzen und Verhältnissen behände angepasst. Wenn ich mich recht erinnere, ist der Film längst nicht so zerrissen und sprunghaft, wie seine Entstehungsgeschichte vermuten lässt. Der Erzählton wechselt, schillert zwischen Slapstick und Drama. Auf jeden Fall verrät der Film eine fiebrige Empfänglichkeit für das Kolorit der Drehorte. Darin ist er ein großartiges Indiz der unbeugsamen Filmleidenschaft der Beteiligten. Sie brauchten keinen festen, sicheren Ort, um Kino zu machen. Kein Hindernis konnte sie davon abhalten. Als bliebe ihnen keine andere Wahl.
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