Treuhänderisch

 Das war für mich der Lackmustest: Wird im Film tatsächlich von den „Mündelgeldern“ die Rede sein, die der Vater unterschlagen hat? Seit Anna Martinetz' Adaption von Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ in Saarbrücken Furore machte, eilt ihr der Ruf großer Werktreue voraus. Ich mochte das kaum glauben. Ist es vorstellbar, dass eine heutige Else aus Scham und Verzweiflung Selbstmord begehen könnte? Und warum sollte eine junge Filmemacherin, die doch bestimmt vor eigenen Ideen übersprudelt, Demut aufbringen vor einer Vorlage, die 90 Jahre alt ist?

Der Trailer ihres Films stellt allerdings in Aussicht, dass diese „Fräulein Else“ viel von Schnitzlers Prosa in die Gegenwart hinübertragen wird. Ich hatte mir keine Illusionen darüber gemacht, ob es Elses Selbstbeschreibung als „Tochter des Defraudanten“ wohl auf die Leinwand schaffen würde. Aber auf die Mündelgelder hatte ich doch gehofft. Und fürwahr, sie kommen bald zur Sprache; wenngleich nicht ohne die Erläuterung, es handele sich dabei um eine Art von Treuhandfonds. Die Regisseurin macht ernst mit Schnitzler. Kühn mutet sie dem Gegenwartskino das Vokabular einer erloschenen Epoche zu. Sie aktualisiert, natürlich. Aus dem „enragierten Tennisspieler“ (ich bin sicher, meiner Taschenbuchausgabe ist hier kein Druckfehler unterlaufen) wird ein „engagierter“, Altersangaben und Geldsummen sind heutigen Verhältnissen angepasst. Das vollzieht sich nicht als Schillern zwischen den Zeiten, sondern als Kollision.

Die altertümliche Dialoge zu hören, ist ein befremdliches, zuweilen köstliches Erlebnis. Für den Zuschauer ist das gewiss ungemütlicher als für die Darsteller. Ihre Figuren erheben sich durch Schnitzlers Dialoge über ihre zeitgenössische Banalität; gerade so, wie es den Häftlingen in „Caesar muss sterben“ von den Brüdern Taviani widerfährt, die ein Shakespeare-Drama einstudieren. Das wird besonders deutlich im Vergleich mit den Rückblenden, die kein Äquivalent in der Novelle haben und in denen Martinetz' Dialogführung zurückschaltet in den matten Modus deutschen Befindlichkeitskinos.

Die Berliner Premiere ihres erstaunlichen Abschlussfilms (sie ist Wienerin, hat aber an der HFF München studiert), fand im Babylon statt und bewies damit ein zweifaches Traditionsbewusstsein: Der neue Film lief im Doppelprogramm mit der Erstverfilmung von Paul Czinner, mit der 1929 eben dieses Kino eröffnet wurde. Auf je eigene Weise werden die Adaptionen Schnitzlers Tragödie um gesellschaftliche und sittliche Entblößung untreu, ohne sie ernstlich zu verraten.

Czinner und sein im Vorspann nicht genannter Co-Autor Carl Mayer erzählen sie anfangs aus der Perspektive von Elses Eltern. Dem Vater droht nach riskanten Börsenspekulationen und der Veruntreuung besagter Mündelgelder eine Gefängnisstrafe. Ihre Tochter (Elisabeth Bergner) ahnt nichts davon, wird durch die Nachricht auf wie aus einem närrisch behaglichen Traum geweckt. In St. Moritz, wo sie die Winterferien verbringt, soll sie den Geschäftsmann Dorsday um ein Darlehen bitten. Es ist atemberaubend, wie Czinner ihre Versuche inszeniert, ihn anzusprechen: Er filmt sie wie ein Wild, das seinem Jäger nachstellt. Dorsday stellt, seine brutale Anmaßung wirkt fast schüchtern, eine Bedingung: Er will sie nackt sehen. Nun legt die übersprudelnde Lebensfreude, die Bergner so gut liegt, bis dahin nicht nahe, dass so etwas wie ein erotischer Gedanke durch ihren Kopf gehen könnte (ganz anders als bei Schnitzler). Der innere Aufruhr, die Seelenqual, in die diese Erpressung Else stürzen, sind indes ein gefundenes Fressen für die Schauspielerin.

Im neuen Film kommen sie nicht vor. Es lässt sich nachvollziehen, dass eine Filmemacherin des 21. Jahrhunderts einen großen Bogen um die Hysterie macht; schon weil sie als klinischer Befund überholt und misogyn anmutet. An diesem Punkt löst sich Martinetz ab von dem unerbittlichen Psychoanalytiker der Gesellschaft, als den Freud seinen Zeitgenossen Schnitzler schätzte. Hauptdarstellerin Korinna Krauss muss Elses Dilemma keinen Ausdruck verleihen. Sie verkörpert, was angesichts der bewundernswerten Präsenz der Schauspielerin paradox erscheint, eine Leerstelle im Drama. Für die raffinierte Flatterhaftigkeit von Elses innerem Monolog, die Schnitzler immer tragischer zuspitzt, sucht die Regisseurin kein erzählerisches Äquivalent. An ihre Stelle treten vielmehr scheinbar unsortierte Assoziationen, die einem Prinzip der atmosphärischen Weiterung gehorchen.Träumerisch entfesselt sich die Filmsprache. Martinetz' Film beschwört eine andere Krisenstimmung auf. Während Schnitzler den Börsenkrach von 1929 vorausahnte (und Czinner ihm gerade zuvorkam), ist die Bankenrise hier längst eingetreten. Diese „Fräulein Else“ spielt in einem nebelverhangenen Indien, in dem die Reichen in postkolonialer, weltferner Behaglichkeit in Luxushotels residieren, denen es an jeder (abgesehen von einer touristischen) Anbindung an die Welt mangelt, die sie umgibt: ein prächtiges Gegenstück zu „Zeit der Kannibalen“, der ebenfalls in dieser Woche anläuft. In meinen Augen bleibt dieser zeitaktuelle Bezug eher ein erzählerisches Vorhaben als ein entschieden artikulierter Impuls. Auf den Zwischenschnitt zu einem Karnevalsauftritt der Kanzlerin kann ich mir keinen Reim machen. Muss ich vielleicht auch nicht.

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