Eine Parallelexistenz
Diese Geschichte handelt davon, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann. Sie beginnt, wie nicht wenige Einträge in diesem Blog, in den 1980er Jahren auf dem Festival von Deauville. Michael Henry Wilson moderierte dort im Theater des Casinos viele der Pressekonferenzen mit US-Regisseuren und Stars, die zum Festival eingeladen waren. Er tat es nicht mit der gleichen jovialen Hingabe, die sein Kollege Waguih Takla an den Tag legte. Aber auch er war ein Gesprächsleiter, der Charme, Strenge und Zweisprachigkeit zu kombinieren wusste.
Man spürte, er hatte einen Draht zu den Filmemachern, mit denen er sprach. Er verstand es, Verbindungen zu knüpfen. Beispielsweise zu Alan Rudolph, in dessen „The Moderns“ er später eine kurzen Auftritt hatte und für den er in der Folge auch ein, zwei Drehbücher schrieb. Mir kam er immer ein wenig wie ein Sonnyboy vor mit seiner Gesichtsbräune, die man so nur in Kalifornien bekommt. Damals muss er um die 40 gewesen sein. Einige Mitarbeiter des Festivals beneideten ihn, weil er angeblich gut davon leben konnte, im Jahr ein paar Filme zu untertiteln. Heute weiß ich, wie falsch diese Vermutung war (schauen Sie nur mal in meinen Eintrag „Stimmen im Ausstand“). Aber damals schien mir sein Dasein höchst erstrebenswert - nicht zuletzt, da seine Frau überaus apart war.
Ich hielt ihn für einen Amerikaner. Ein paar Jahre später erfuhr ich jedoch, dass er 1946 in Boulogne-sur-mer als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer französischen Mutter geboren wurde und in Paris aufwuchs. Nach und nach bekam er ein ganz anderes Profil für mich. Mir fiel auf, dass er in der Zeitschrift „Positif“ gelegentlich über das Hollywoodkino schrieb und Interviews mit dessen Protagonisten führte. Tatsächlich hatte er dort bereits 1971 angefangen - im gleichen Jahr, in dem er seine Abschlussarbeit über das Expressionistische Kino sowie eine Monographie über Frank Borzage veröffentlichte. Neben Büchern über Hollywoodklassiker wie Jacques Tourneur und Raoul Walsh drehte er diverse Fernsehdokumentationen. Zwei von ihnen können Sie auf arte gesehen haben: vielleicht sein Porträt von Clint Eastwood aus dem Jahr 2007, wahrscheinlicher jedoch Scorseses Reise durch das amerikanische Kino, bei der er Co-Regisseur war. Die Verbindungen, die er knüpfte, waren nicht nur strategische. Mit cinéphiler Verve und historischer Präzision wusste er Motive im Werk von Regisseuren aufzuspüren und zu sortieren. Seine umfassenden Kenntnisse und der immense Fleiß, der in seinen Stilanalysen steckte, machten ihn zu einem idealen Positif-Autor. Das hielt ihn nicht davon ab, große Interviewbände im Verlag der Konkurrenz, den Cahiers du cinéma zu veröffentlichen. Er konnte sich souverän über solche Grabenkämpfe hinwegsetzen. Von den Kritikern bei Positif wurde seine transatlantische Kompetenz hoch geschätzt, zumal von meinem gastfreundlichen Pariser Kollegen Yann Tobin. Als ich heute dessen Editorial zur September-Nummer der Zeitschrift las, stutzte ich, weil die Ausgabe Michael Henry Wilson gewidmet ist. War das eine Hommage an sein neues Buch „À la porte du paradis“, einer Chronik des Hollywoodkinos im Form von 58 Regisseurs-Porträts? Vor einigen Wochen hatte ich noch die Einladung zu einer Buchpräsentation erhalten. Aber eine bange Ahnung beschlich mich. Nach einer kurzen Internetrecherche fand ich heraus, dass er bereits Ende Juni gestorben ist. Die französischen Tageszeitungen hatten davon keine Notiz genommen; nur in Variety erschien ein kurzer Nachruf. Dieser Mann, der mich so sehr überrascht hat und von dem ich hoffentlich Einiges gelernt habe, starb mit 67 Jahren an Lungenkrebs. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je mit einer Zigarette gesehen zu haben. Aber man vergisst ja mitunter, wie viel in seiner Generation noch geraucht wurde.
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