Netflix: »100 Jahre Einsamkeit«

»Hundert Jahre Einsamkeit« (Serie, 2024). © Pablo Arellano / Mauro González / Netflix

© Pablo Arellano / Mauro González / Netflix

Ein Schmöker auf dem Bildschirm

Das Schicksal von sechs Generationen einer Familie über eine Zeitspanne von hundert Jahren erzählen, so lautete der Auftrag dieser Romanverfilmung. Márquez' Meisterwerk, 1967 veröffentlicht und in 30 Millionen Exemplaren in 32 Sprachen weltweit verkauft, galt als unverfilmbar. Umso schöner, dass die Serie dem Epos, das mit der Geschichte des Clans der Buendías nebenbei die Historie Kolumbiens vermittelt, gerecht wird. Zumindest lässt sich über diese achtteilige Staffel, in der die erste Hälfte des Romans ausgebreitet wird, nur Gutes sagen. Der aufwendigen Produktion, gänzlich aus kolumbianischer Hand, merkt man an, dass dem Nationalepos ein Denkmal gesetzt werden sollte. Konzipiert wurde die Serie von Márquez' Söhnen Gonzalo und Rodrigo García Barcha (u. a. Co-Regisseur der HBO-Serie »Six Feet Under«), die auch als Co-Produzenten fungierten. Von den Schauplätzen – die fiktive Siedlung Macondo wurde als Kulisse auf der Fläche von 70 Fußballfeldern errichtet – über eher unbekannte Darsteller bis hin zur verwunschenen Stimmung wurden keinerlei Konzessionen an eine leicht verdauliche Netflixhaftigkeit gemacht.

Anders als der zeitlich zwischen Vor- und Rückgriffen verschachtelte Roman ist die Geschichte linearer angelegt, aber dennoch weitgehend textgetreu. Untermalt wird die Chronik vom Offkommentar einer aus Romanpassagen zitierenden, getragenen Erzählstimme, was dem Geschehen eine überzeitliche zweite Ebene verleiht. Wenn das Gründerpaar José Arcadio Buendía und seine blutjunge Frau Ursula mit einer Gruppe Gleichgesinnter ihre ärmliche Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlässt, befindet man sich von Anfang an auf schwankendem Boden. Arcadios Sehnsucht nach dem Meer erfüllt sich nicht, und so errichtet er die Siedlung Macondo mitten im Urwald. Von zunächst unbefestigten Hütten wandelt sich der Weiler mit steigendem Wohlstand der Bewohner zur schmucken Kleinstadt. Arcadios Anwesen bevölkert sich im Laufe der Jahrzehnte mit ehelichen und unehelichen Nachkommen, außerdem Findelkindern, angeheirateten Verwandten und Freunden, umsorgt von der tüchtigen Ursula. Arcadio widmet sich derweil Experimenten, zu denen ihn der Gitano Melquíades inspiriert. Mit der anbrechenden Moderne jedoch wird die autonome Siedlung in den bis heute währenden Bürgerkrieg verstrickt.

Márquez' magischer Realismus, in dem wie in Arcadios Labor Wissenschaft und Magie, Irdisches und Übernatürliches verschmelzen, wird filmsprachlich mit schwebenden, kreisenden Kamerafahrten zwischen Licht und Schatten zur Geltung gebracht. Zugleich Zuflucht und Treibhaus, blühen in Arcadios Heim Leidenschaft, Wahnsinn und Aberglaube, Geister, Gewalt und Machismo in tropischer Fülle. Der langsame, von kathartischen Momenten getaktete Erzählrhythmus und der schwelgerische Soundtrack kreieren eine immersive Atmosphäre, durchzogen von quälender Sehnsucht und tiefer Melancholie. So hat auch die Serie die Wirkung eines Schmökers, der einen nächtelang wach hält.

Trailer

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt