Mubi: »Occupied City«
Kein Archivmaterial, keine Interviews, keine Stadtpläne oder Grafiken: Steve McQueen, selbst Wahl-Amsterdamer, erzählt in seiner Bearbeitung des Buchs »Atlas of an Occupied City, Amsterdam 1940–1945« seiner Frau Bianca Stigter von der Vergangenheit, indem er Bilder der heutigen Stadt zeigt. Oft sind es statische Ansichten von Straßen und Häusern, Kanälen, Plätzen und Parks, doch auch von Interieurs. Die historische Dimension spielt sich ausschließlich auf der Tonebene ab: Eine nüchtern-kühle Erzählstimme (Melanie Hyams in der englischen Fassung, Carice van Houten in der niederländischen) ordnet den Orten Ereignisse aus der Zeit der Naziherrschaft zu. Häufig setzt sie nach diesen kurzen, lexikalisch anmutenden Texten ein trockenes »demolished« hinzu, wenn ein Gebäude inzwischen nicht mehr existiert.
»Occupied City« entwirft auf diese Weise eine historische Topographie, die so spröde wie monumental daherkommt. Mit vier Stunden Laufzeit in repetitiver Gestaltung und gleichbleibendem Tonfall, weder einem nachvollziehbaren »Stadtrundgang« folgend – auch wenn berühmte Bauwerke wie das Concertgebouw oder das Rijksmuseum vorkommen – noch einer emotionalen Dramaturgie, stellt er eine Herausforderung für die Aufmerksamkeit dar – und zieht genau daraus seine hypnotische und berührende Wirkung. Bei dieser spielt auch eine Eigenart der Drehzeit von 2020 bis 2022 mit: Es war die Zeit der Pandemie und der Lockdowns. So sehen wir Amsterdam bisweilen gespenstisch leer, scheinbar verlassen, etwa in ausgedehnten nächtlichen Fahrtaufnahmen zum sehr zurückhaltenden Soundtrack von Oliver Coates.
Doch wenn wir Menschen sehen, sehen wir sie meist ganz alltäglich, in sommerlichen wie winterlichen Szenerien spazieren oder einkaufen gehen, joggen, Fahrrad fahren, arbeiten oder feiern, Gitarre spielen oder einfach nur zu Hause rumsitzen – während wir erschütternden Geschichten von Unterdrückung und Terror lauschen, von der immer weiter eskalierenden Verfolgung von Juden, von Verstecken, Widerstand, Flucht und Deportation, von der brutalen Willkür der Besatzungsmacht, von Selbstmorden, doch auch von erstaunlichem Mut und Akten der Solidarität.
Die filmische Methode, mit der sich Steve McQueen weit von seinen letzten, klassischer Narration verpflichteten fiktionalen Werken entfernt, erinnert zum einen an seine eigenen frühen Videoinstallationen, zum anderen aber auch an Dokumentarfilme wie Thomas Heises »Heimat ist ein Raum aus Zeit« oder auch Ute Adamczewskis »Zustand und Gelände«. Der Kontrast von visueller und auditiver Ebene erzeugt dabei eine produktive Spannung, die immer wieder irritiert.
Fast schon pathetisch wirkt in diesem Rahmen etwa, wenn die Kamera am Leidseplein zufällig die Kollision eines Fahrradfahrers mit einem Fußgänger einfängt und darüber die Geschichte eines Arztes gelegt ist, der 80 Jahre zuvor am gleichen Ort Zeuge wird, wie ein deutscher Polizist einen am Boden liegenden Gefangenen brutal zusammentritt. Erschüttert über das Unrecht und sein eigenes untätiges Zusehen, beginnt dieser Arzt von jenem Tag an, Widerstand zu leisten – »nothing heroic or major or anything«, wie er zitiert wird, doch genug, um dafür inhaftiert zu werden. Im Bild kümmern sich inzwischen Passanten um die beiden Verunfallten – eine Szene von Anteilnahme und Fürsorge.
So vergegenwärtigt »Occupied City« zugleich die Schrecken und Tragödien der Geschichte, indem er ihnen ihre konkreten Orte zurückgibt, bildet aber auch ein Heute überaus plastisch ab, das bisweilen wie ein positives Gegenbild erscheint. Wir schauen in den Alltag einer vielfältigen und offenen, sogar trotz einer Pandemie lebendigen Großstadt, mit Partys, Kunstaktionen, Demonstrationen, Gedenkveranstaltungen, queeren Hochzeiten. Und in der berührenden Schlusssequenz sehen wir auch die Bar-Mizwa eines Jungen, dessen Vater schwarz und dessen Mutter weiß ist. Die in diesen Filmbildern sichtbare Realität ist eine kraftvolle Antithese zu allem, was das Naziregime verkörpert. Eine Fülle von Leben und Gemeinschaft steht hier gegen Unterdrückung und Terror, Angst und Tod. Steve McQueen führt uns in dieser großartigen Meditation über seine Wahlheimat nicht nur die Schrecken der Vergangenheit vor Augen, er zeigt uns auch, was wir in der Gegenwart an unseren liberalen Demokratien haben. Und er erinnert uns daran, dass dies nicht selbstverständlich ist.
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