Apple TV+: »Fancy Dance«
Jax (Lily Gladstone) lebt mit ihrer Nichte Roki (Isabel Deroy-Olson) im Seneca-Cayuga Reservat im Nordosten Oklahomas. Jax' Schwester Tawi ist seit zwei Wochen verschwunden, und schon steht eine Bedienstete vom Jugendamt vor der Tür und droht, weil Tochter Roki noch minderjährig ist. Doch die beiden indigenen Frauen sind es gewohnt, sich gegen Gängelungen und Alltagsdiskriminierungen zur Wehr zu setzen, um zu überleben. Oder sich zumindest mit Tricks durchzulavieren, beim Hütchenspiel ein paar Dollar zu verdienen oder am Fluss einem weißen Angler Brieftasche und Autoschlüssel zu entwenden.
Auch bei der Suche nach der Vermissten vertraut Jax nicht auf die Hilfe der Behörden, die sich wenig um den Verbleib einer indigenen Frau zu kümmern scheinen. Das FBI bleibt genauso passiv wie ihr eigener Halbbruder JJ (Ryan Begay), der als Reservatspolizist zu wissen glaubt, dass die Schwester schon öfter abgehauen und immer wieder aufgetaucht sei. Also stellt Jax selbst Nachforschungen an, fragt mit einem Fahndungsposter in der Hand etwa die Kunden im Stripperladen, in dem ihre Schwester als Tänzerin arbeitete. Für einen Lapdance steckt sie dabei als queere Frau einer der Kolleginnen großzügig Scheine zu.
Die 13-jährige Roki spart sich indes Geld zusammen für das Pow-Wow, das traditionelle Jahrestreffen in Oklahoma City, auf dem die Indigenen ihre Bräuche und Tänze pflegen. Sie glaubt fest daran, dass ihre Mutter bis dahin wieder auftaucht, und bereitet sich akribisch auf den gemeinsamen Auftritt vor, näht eine neue Tracht für sich.
Als Jax' weißer Vater Frank (Shea Whigham) mit seiner Frau Nancy (Audrey Wasilewski) zu Besuch kommt, hat Jax' abweisende Reaktion nicht nur mit dem Kater von der durchzechten Nacht zu tun. Als dann auch noch das Jugendamt beschließt, dass Jax wegen ihres Strafregisters und Drogenkonsums keine geeignete Aufsichtsperson sei, wird Roki temporär in die Obhut der Großeltern gegeben, die ihre indigene Enkelin kaum kennen und von der Verantwortung überfordert sind. Das Mädchen selbst hat dabei kein Mitspracherecht. Jax beschließt, ihre Nichte mitten in der Nacht zu befreien, sich mit ihr zusammen auf den Weg zum Pow-Wow zu machen und weiter nach Tawi zu suchen.
»Fancy Dance« ist das Regiedebüt der indigenen Filmemacherin Erica Tremblay, die bislang vor allem dokumentarisch gearbeitet hat, aber auch an der Serie »Reservation Dogs« mitwirkte. In dem gemeinsam mit Miciana Alise geschriebenen Drehbuch verbinden sie das Familiendrama mit Thrillerelementen und einer breiteren Auseinandersetzung mit der Lebensrealität indigener Menschen in Nordamerika, die geprägt ist von Armut, Sucht und kolonialistischer Gewalt, in der Menschen entmündigt werden und immer wieder Frauen spurlos verschwinden. Das wird aber weder zur melodramatischen Opfererzählung noch zum didaktischen Lehrstück, sondern durch die Widerständigkeit und Solidarität der Frauen zu einer kämpferischen, authentischen und letztlich hoffnungsvollen Innenansicht eines soziokulturellen Umfelds, das lange nur durch den weißen Blick von außen repräsentiert wurde. Das zeigt sich nicht zuletzt im Dialog, der die Gräben zwischen Indigenen und Weißen auch sprachlich deutlich macht. Jax und Roki reden Cayuga miteinander, wo das Wort für Tante »kleine Mutter« lautet. Getragen wird der Film von den beiden Hauptdarstellerinnen. Lily Gladstone, die für ihre Rolle in Martin Scorseses »Killers of the Flower Moon« in diesem Jahr eine Oscarnominierung erhielt, beeindruckt einmal mehr als streitbare Rebellin mit Wut im Bauch. Die Entdeckung des Films ist Isabel Deroy-Olson: Emotional glaubwürdig spielt sie Roki, die sich zwischen Pubertät, dysfunktionaler Familie und Traumata ihren eigenen Platz im Leben sucht.
Nach der Premiere auf dem Sundance Film Festival im Januar sollte der Film ursprünglich vom Berliner Progress Verleih in die deutschen Kinos gebracht werden. Als Apple sich die Rechte im Rest der Welt sicherte, einigte man sich gütlich.
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