Sky: »Poker Face«
»Poker Face« (Serie, 2022). © Peacock TV LLC.
Charlie (Natasha Lyonne) will nicht mehr als in Ruhe in ihrem Wohnwagen leben, Bierchen trinken und in ihrem uralten Auto durch die Gegend fahren. Selbst mit ihrem Job als Kellnerin in einem Casino in Nevada hat sie sich abgefunden. Denn Charlie besitzt eine Gabe, die ihr permanent Ärger einbrockt: Sie kann sofort erkennen, wenn jemand lügt. Das bescherte ihr eine lukrative Zeit in Pokerrunden, rückte sie jedoch in den Fokus übler Typen. Deshalb muss sie, am Ende der ersten Folge, Hals über Kopf ihr Refugium verlassen und untertauchen. Beim Versuch, unterm Radar zu bleiben, tingelt sie durchs Land, verdingt sich gegen Bares in schrägen Jobs, wird jedoch stets mit Todesfällen konfrontiert, deren Merkwürdigkeiten ihr keine Ruhe lassen.
Mit erdbeerblonder Wuschelmähne und heiserer Stimme, in Jeans und stets mit einer Zigarette in der Hand entpuppt sich die Desperada als coolste Hobbydetektivin seit Miss Marple. Und erinnert, in ihrer freundlichen Zerknautschtheit, dem treuen Hundeblick, den vermeintlich harmlosen Fragen zugleich an den TV-Ermittler Columbo. Auch das Bauprinzip von »Poker Face« erinnert an diese legendäre Krimiserie, in der das »Whodunit« von Anfang an geklärt war: In der ersten Viertelstunde jeder Folge wird die Ausführung des Mordes gezeigt. Dann, beginnend mit einer vor der Tat einsetzenden Rückblende, wird das Geschehen aus der Perspektive von Charlie erzählt, die sich mit dem potenziellen Opfer und meist auch den Tätern anfreundet und somit die Handlung durch Kontext und Charakterzeichnung ergänzt. Und, als menschlicher Lügendetektor, nicht umhin kann, sich einzumischen. Jede Folge steht für sich, als loser roter Faden dient lediglich ein Killer, der Jagd auf Charlie macht und sie stets aufs Neue zur Flucht zwingt.
Die Plots erfreuen nicht nur mit ihren tüfteligen Details – konzipiert ist die Serie von Rian Johnson, Schöpfer der »Knives Out«-Agatha-Christie-Gedächtniskrimis –, sondern noch mehr durch die Atmosphäre. Die Unorte verschiedenster Ecken in den USA, in denen Charlie kurzzeitig strandet, die Fast-Food-Buden, Tankstellen, Mini-Markets, sind in gesättigten Farben ausgeleuchtet und entwickeln, untermalt von Tex-Mex-Musik und Rock-Oldies, oft einen Hopper-haften Sog. Obwohl die Menschen am Rande der Gesellschaft auch an »Nomadland« erinnern, wird in der Serie doch ein erträumtes Amerika mit viel Route-66-Romantik inszeniert. Denn so öde die Szenerie sein mag, die Wüsteneien bieten doch den Trost, verloren gehen zu dürfen und jenseits von Konventionen autonom leben zu können.
Charlie, die unbefangen mit Hinz und Kunz quatscht, klinkt sich übergangslos in den Mikrokosmos schräger kleiner Gemeinschaften ein, wie magisch angezogen von Misfits. Ein besonderer Spaß sind die Auftritte von Ausnahmeschauspielern wie Chloë Sevigny als im Baumarkt jobbende mürrische Metal-Rock-Queen mit der Sehnsucht nach einem Comeback oder Ellen Barkin, die im Diner auftritt.
Oft sind die Plots geradezu genial; so begegnet Charlie in einem Altersheim zwei brachial gut gelaunten und nach wie vor mörderischen Ex-Terroristinnen, oder sie leiht einem begnadeten Barbecue-Betreiber die »Schweinchen Babe«-DVD und löst damit eine Lawine unguter Ereignisse aus. Und auch wenn mancher Plot etwas mechanisch wirkt – besonders die abschließende zehnte Folge ist enttäuschend lahm –, wird aufkommende Langeweile stets durch den Auftritt Charlies im Keim erstickt.
Natasha Lyonne, die auch am Drehbuch mitschrieb, ist eine unwiderstehliche Heldin, verletzlich und lässig, naiv und weise. Obwohl ihre übernatürliche Gabe den Anlass für ihre Schnüffelei liefert, wird daraus nie großes Gewese gemacht. Zumindest bis jetzt – und man hofft doch stark, dass Charlie in weiteren Staffeln »on the road« bleibt; gibt es doch nur wenig Anzeichen für eine mit beflissener Küchenpsychologie ausgeleuchtete Hintergrundgeschichte.
OV-Trailer
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