Film des Monats März: »Saint Omer«
Zu Recherchen für ihr neues Buch reist die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) in die nordfranzösische Kleinstadt Saint-Omer, wo ein aufsehenerregender Prozess stattfindet: Die senegalesische Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) wird beschuldigt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben. Die Tatsachen – Coly hat das Kleinkind bei einbrechender Flut am Strand zurückgelassen, damit es stirbt – sind gesichert, unklar bleiben jedoch die Gründe und Motive, die eine resolute Richterin (Valérie Dréville) herauszuschälen versucht: War Coly egoistisch und des Kindes überdrüssig, wie der Staatsanwalt meint? War sie vom Kindsvater vernachlässigt worden? Von den ehrgeizigen Erwartungen ihrer Eltern überfordert? Hatten ihre Tanten im Senegal sie verhext, wie sie selbst behauptet?
Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Diop behandelt in ihrem Spielfilmdebüt existenzielle Menschheitsthemen wie Schuld und Gerechtigkeit, Mutterschaft, soziale Hierarchie und gesellschaftliche Zwänge. Ihrer Geschichte liegt ein wahrer Fall zugrunde. Doch im Film schafft der Prozess keine Klarheit, sondern legt Vieldeutigkeit offen. Nicht das Gesetz, sondern der Mythos bietet einen Schlüssel zum Verständnis: Die antike Figur der Medea dient Rama als Interpretationsrahmen für ihr Buchprojekt. Mit komplexen und sorgfältig getexteten Dialogen stellt sich Diop in eine französische Filmtradition, die psychische Strukturen und unbewusste Beziehungsdynamiken durch Versprachlichung offenzulegen versucht. Gleichzeitig machen die langen, nahen Einstellungen von Kamerafrau Claire Mathon (»Porträt einer jungen Frau in Flammen«) auf schweigende, zuhörende Gesichter deutlich, dass dies kaum gelingen kann.
In einer Zeit, in der Kulturkämpfe, Rassismus und Identitätspolitiken den öffentlichen Diskurs bestimmen, verteidigt Alice Diop mit diesem Film die Universalität humanistischer Ideen. Doch dies gerade nicht, indem nicht-westliche Traditionen und kulturelle Kontexte ausgelöscht, sondern indem sie integriert werden. Und indem die allen Kulturen gemeinsame Grundlage menschlicher Gesellschaften ins Zentrum gestellt wird, statt sie wie die patriarchale Tradition auszuschließen: Mutterschaft.
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