Interview: Alice Diop über »Saint Omer«

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Alice Dipo

Alice Diop

Der Kindsmord der 36-jährigen Fabienne Kabou an ihrer 15-monatigen Tochter im November 2013 sorgte in Frankreich für großes Aufsehen. Haben Sie damals bereits darüber nachgedacht, den Fall zu verfilmen?

Alice Diop: Nicht unmittelbar, aber ich entwickelte eine Obsession für den Fall, die mich zeitweise richtig beschämte. Für mich begann es mit einem Foto in einer Tageszeitung, von einer Überwachungskamera am Gare du Nord. Es zeigt eine schwarze Frau mit einem Kinderwagen. Zwei Tage zuvor hatte die Polizei am Strand in Nordfrankreich ein totes Baby gefunden, die Frau galt als Verdächtige. Als ich ihre Gesichtszüge sah, wusste ich sofort, dass die Frau aus dem Senegal stammt. Mich überkam ein sehr merkwürdiges Gefühl von Verbundenheit. Dort begann meine Faszination. Als sie dann die Frau fassten und sie geständig war, beschloss ich, nach Saint Omer zu reisen und dort den Prozess zu verfolgen. 

Was trieb Sie an?

Ich wollte verstehen, wie es zu einer solch schrecklichen Tat kommen konnte. Die fünf Gerichtstage verstörten mich zutiefst. Und mir ging es nicht allein so. Die meisten Personen im Saal waren Frauen. Zuhörerinnen und Journalistinnen, auch die Anwältinnen. Wir alle waren bestürzt und überwältigt von ihren Aussagen bei der Befragung. Viele von uns brachen in Tränen aus. Und mir wurde klar, dass es mit etwas profund Weiblichem zu tun hat: dem Muttersein. Diese Aussagen waren wie ein Trigger, uns mit unseren eigenen Entscheidungen auseinanderzusetzen. 

Wie genau entsprecht das im Film Gehörte dem, was tatsächlich vor Gericht ausgesagt wurde?

Der Wortlaut im Film entspricht exakt den eidesstattlichen Aussagen von Fabienne Kabou im tatsächlichen Prozess. Auch das Plädoyer ihrer Verteidigerin ist sehr nah an dem, was damals gesagt wurde. Seit meinem ersten Kurzfilm versuche ich, Hybridformen zwischen Realität und Fiktion zu finden. Auch wenn meine bisherigen Arbeiten als dokumentarisch gelten und dies mein erster Spielfilm ist, folge ich doch derselben Regel. Für mich ist diese Gratwanderung die Essenz des Kinos. 

Haben Sie Kontakt aufgenommen zur Angeklagten, ihrer Verteidigerin oder anderen am Prozess Beteiligten?

Nein, zu niemandem. 

Was das Fiktionale betrifft: Inwieweit wollten Sie dem Genre des Gerichtsdramas durch die ungewöhnliche Inszenierung neue Facetten abgewinnen?

Ich wollte nicht mit Genrekonventionen spielen, ich suchte schlicht nach dem passendsten Ausdruck für diese Geschichte. Meine Bezugspunkte finden sich eher in der klassischen Malerei, etwa bei Leonardo da Vinci, der für mich Inspiration war, wie ich Laurence ins Bild setzte. »Saint Omer« ist ein Film zwischen Naturalismus, Theater und einer Form abstrakten Storytelling. Die Einflüsse waren auch literarische, »Kaltblütig« von Truman Capote etwa oder André Gides Erinnerungen aus dem »Schwurgericht«. Und im Saal hatte ich selbst mehrfach den Eindruck, Teil eines Romans von Dostojews­ki zu sein, so tief ließ uns die Angeklagte in ihre Psyche blicken. Auch wenn ich keinen Genrefilm machen wollte, hatte ich Werke im Kopf, Robert Bressons »Der Prozess der Jeanne d’Arc« wegen der langen, ruhigen Einstellungen oder Henri-George Clouzots »Die Wahrheit«für die Ambivalenz der Protagonistin. 

Der Film reflektiert auch, was es bedeutet, als schwarze Frau in der französischen Gesellschaft zu leben.

Für mich ist gerade das Politische an »Saint Omer«, dass die beiden Hauptfiguren schwarze Frauen, aber die Themen, um die es geht, universell sind. Mir geht es nicht um Repräsentation. Ich selbst bin eine schwarze Französin, die an der Sorbonne-Universität Geschichte und Anthropologie studiert hat. Die Themen, die mich beschäftigen, haben wenig mit der Farbe meiner Haut zu tun. Das Thema meines Films ist nicht Rassismus, sondern das Muttersein. Die Figuren werden nicht über ihre Hautfarbe definiert. Sie hätten genauso gut weiß sein können, es hätte keinen Unterschied gemacht. 

Die Protagonistin, die wie Sie nach Saint Omer reist, um den Prozess zu verfolgen, ist eine schwarze Schriftstellerin, die diese Ereignisse verarbeitet. Inwieweit ist sie ihr Alter Ego?

Zunächst hatte ich eine weiße Autorin im Kopf. Bis mir klar wurde, dass ich mich damit auf eine Art selbst zensiere. Warum hatte ich nicht genug Selbstvertrauen, eine schwarze Nachwuchsautorin zur Hauptfigur zu machen? Ihre Familie ist eingewandert, aber sie lebt nicht in einer Sozialbauwohnung der Problemviertel. Sie kommt aus einem anderen Milieu. Solche Frauen sieht man sonst nicht auf der Leinwand.

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