Kritik zu Saint Omer
Alice Diop vermischt in ihrem ersten Spielfilm Dokumentarisches und Fiktion. Die Geschichte um den Prozess gegen eine aus dem Senegal nach Frankreich gekommene Frau, die ihr Baby ertränkt hat, basiert auf wahren Begebenheiten
Nach einem langen Tag im Gerichtssaal will die Schriftstellerin Rama nur noch zurück in ihr Hotelzimmer. Der Prozess um die Kindsmörderin Laurence Coly hat sie an diesem Tag noch tiefer getroffen als an den Tagen zuvor. Es ist, als hätten die Vorgänge im Gerichtssaal sie, die im vierten Monat schwanger ist, innerlich verletzt. Und dieser innere Aufruhr lässt Rama die Welt um sich herum anders wahrnehmen. Sie wirkt noch fremder, noch feindseliger als sonst. Auf dem Weg zurück zum Hotel muss sich die schwarze, aus Paris kommende Intellektuelle an Massen von feiernden Weißen vorbeizwängen, die die Straßen der nordfranzösischen Kleinstadt Saint Omer bevölkern.
Auf den ersten Blick fällt diese Szene aus dem Rahmen, den die Filmemacherin Alice Diop für ihr Spielfilmdebüt »Saint Omer« erschaffen hat. Alle anderen Szenen strahlen eine kühle Sachlichkeit aus. Der Gestus des Dokumentarischen, der künstlerische Glaube, dass sich Wahrheit in genauem Beobachten der Menschen und der Welt offenbaren wird, prägt den von Alice Diop zusammen mit Amrita David und Marie N'Diaye geschriebenen Spielfilm. In gewisser Weise hat »Saint Omer« sogar einen dokumentarischen Kern. Er basiert sowohl auf wahren Begebenheiten als auch auf autobiografischen Erfahrungen Diops. Sie hatte 2016 den Prozess gegen die aus dem Senegal stammende Fabienne Kabou, die angeklagt war, ihre 15 Monate alte Tochter an der Küste von Berck-sur-Mer ertränkt zu haben, im Gerichtssaal in Saint Omer verfolgt. Die Tage im Gericht und die schon fast obsessive Beschäftigung mit der Täterin durchdringen nahezu jede Einstellung des Films.
Indem sie wirkliche Ereignisse in eine Fiktion verschließt, hält Alice Diop einen Abstand zu ihnen, der das Unfassbare zumindest reflektierbar macht. Dieser Abstand manifestiert sich dabei nicht nur in der Fiktionalisierung. Er offenbart sich auch im Spiel von Guslagie Malanda, die in der Rolle der Kindsmörderin Laurence Coly meist regungslos auf der Anklagebank sitzt und doch von Hexerei und bösen Geistern spricht, und in den langen ruhigen Einstellungen, mit denen die Kamerafrau Claire Mathon dem Gerichtsdrama jede vordergründige Dramatik nimmt. Wie die von Kayije Kagame gespielte Rama bleibt man letztlich außen vor. Man sieht und hört zu, versucht zu verstehen und scheitert daran. Es gibt eine unsichtbare Wand, die nicht nur die Schriftstellerin und die Kindsmörderin, sondern alle Menschen voneinander trennt.
In Diops Film wird diese Wand allerdings zu einem Spiegel. Wer in ihn hineinblickt, sieht schließlich in sein eigenes Inneres. So geht es Rama an dem Tag, an dem sie taumelnd in ihr Hotelzimmer zurückkehrt. Der Weg durch die Stadt ist der Moment, in dem Diop ganz gezielt alle Distanzierungsstrategien des Films in sich zusammenbrechen lässt. Das Innere und das Äußere, Ramas Wahrnehmung der Welt und die Wahrnehmung der Welt von ihr, scheinen zusammenzustoßen. Eine Kollision, bei der es nicht nur der Künstlerin schwindelig wird. Ein Abgrund tut sich auf von (Vor-)Urteilen und Alltagsrassismen, die Alice Diop zuvor durch ihren distanzierten Blick scheinbar eingehegt hatte.
Die Erkenntnis, dass weder Rama noch Laurence Coly, die beide als Intellektuelle doch in der Mitte der Pariser Gesellschaft angekommen sind, wirklich dazugehören, dass sie in den Augen der Weißen immer Fremde bleiben werden, deren Handlungen aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Herkunft anders wahrgenommen werden, trifft einen wie ein Schlag. Selbst die Entschuldigungen oder zumindest Erklärungsversuche, die Teile des Justizapparats für Colys Mord an ihrem Baby suchen und in Schlagworten wie »Hexerei« finden, haben etwas Herablassendes. Sie zeigen deutlich, dass eine schwarze, aus einem afrikanischen Land stammende Frau kaum je ganz in der westlichen Welt ankommen kann.
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