Netflix: »Sandman«

»The Sandman« (Staffel 1, 2022). © Netflix

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Traumreich in Trümmern

In Buchhandlungen werden seine Werke ins »Fantasy«-Regal einsortiert. Doch der Brite Neil Gaiman mag es lieber, wenn seine Romane als »magischer Realismus« bezeichnet werden. Die Welten, die er entwirft, sind einesteils in unserer Wirklichkeit verankert, und dennoch ist darin etwas faul: Mitten im Alltagsgetriebe verfolgen übernatürliche Wesen ihre eigene Agenda. Der culture clash zwischen diesen beiden Sphären wurde filmisch schon mehrmals bearbeitet, zuletzt in den ambitionierten Serien »American Gods« und »Good Omens«. Der heilige Gral für die Fans des Kultautors ist aber die Graphic-Novel-Reihe »The Sandman«, die von 1989 bis 1996 unter dem Dach des DC-Comicverlags veröffentlicht wurde und den Popjournalisten berühmt machte. Nach dreißigjähriger Wartezeit findet der als unverfilmbar gegoltene Comic nun doch ins Bewegtbild. Die zehnteilige erste Staffel ist, wie einst die Veröffentlichung der ungewohnt verstiegenen und schwarzhumorigen Comics, ein kommerzielles Wagnis. 15 Millionen Dollar soll eine Folge gekostet haben, und das für einen Stoff, der für Nichtkenner schwer zu durchschauen ist.

Im Zentrum steht also der Sandman, auch Lord Morpheus oder Dream genannt, Herrscher des Traumreichs. Er wird 1916 von einem englischen Hobbymagier gekidnappt und hundert Jahre in einem kristallenen Kerker gefangen gehalten, bis er sich dank eines vom Mallorcaurlaub träumenden Wächters befreien kann. Sein eigenes Reich fiel derweil in Trümmer, und um es wieder aufzubauen, muss er die drei Insignien seiner Macht wiederfinden, was ihn nach London, das amerikanische Buffalo und in die Hölle führt. Anschließend gilt es, abtrünnige Alpträume zu jagen und einen Traumwirbel in Gestalt des Waisenmädchens Rose Walker unschädlich zu machen. Zudem mischen bald auch die Geschwister von Dream, darunter Death, Desire, Despair, mit.

Gaiman, der mit produzierte, versetzte die Koordinaten 30 Jahre nach vorn in unsere Gegenwart. Dabei erfüllt er frohen Mutes zeitgeistige Vorgaben: Das neue Personal ist schwärzer, weiblicher und queerer. Tom Sturridge als spindeldürrer, schwarz gewandeter und melancholisch blasser »Sandman« erinnert an den Punk- und Gothic-Trend seiner Entstehungszeit, doch Luzifer ist nun weiblich, Exorzist John Constantine wird zu Joanna. Man sieht der Serie ihr Budget an, obwohl gerade Morpheus' CGI-Traumreich in seiner Künstlichkeit am wenigsten überzeugt. Der Bildertaumel erstreckt sich vom Heute bis weit zurück in die Zeit, von der Realität in potenziell unendliche Traumwelten, ist mal von Dalì, mal von Dantes Höllenkreisen inspiriert. Der dank anamorpher Linsen leicht verzerrte Look sorgt für konstante Irritation. Horrorszenen – etwa in einem Diner, dessen Gäste ihre Triebe blutig ausleben, oder ein Serienkillerkongress – sind aber nicht ganz so explizit brutal wie in Heftform.

Ungewohnt ist auch die Serienstruktur, denn die Erzählung wird immer wieder von unbekümmert mäandernden Episoden ausgebremst, in denen in epischer Breite etwa philosophische Fragen ins Spiel kommen: so etwa bei einem alle hundert Jahre stattfindenden Treffen mit einem fröhlichen Kneipenzecher, dem er stets weitere Lebenszeit spendiert, um herauszufinden, wie sehr die Irdischen am Leben hängen. Das bedächtige Tempo passt zur überzeitlich-hegelianischen Grundidee, in der einer stets das Böse will und das Gute schafft und das Sich-Verzetteln einer unsichtbaren Ordnung folgt. Dream und die anderen »Ewigen«, personifizierte Allegorien menschlicher Gefühle, agieren wie antike Götter und benutzen Menschen als Werkzeug für ihre Händel. In diesem neoheidnischen Überbau ist Stephen Fry als Wiedergänger des Schriftstellers G. K. Chesterton, der wiederum das irische Seefahrerparadies »Fiddler's Green« verkörpert, noch die christlichste Figur. Letztlich ist der Einfallsreichtum der Vorlage der beste Grund, sich diese Serie, in der man stets darauf gespannt ist, wer, wie, wo als Nächstes um die Ecke kommt, anzusehen.

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