Mediathek: »In Therapie« Staffel 2
© Manuel Moutier/Les Films du Poisson
Die Corona-Pandemie bestimmt die Morgennachrichten. Die Schulen werden wieder geöffnet. Das Partyvolk hält die Abstände nicht ein. Philippe Dayan schaltet um auf einen Musiksender. Seine Fantasie spielt ihm einen Streich. Der Pariser Psychotherapeut sieht Adel Chibane auf der Couch sitzen, einen früheren Patienten, der sich dem Kampf gegen Islamisten anschloss und dabei zu Tode kam. Chibanes Familie gibt Dayan die Schuld, verklagt ihn. Deshalb hat er an diesem Tag einen Termin mit seinen Anwälten.
Für Kenner der von einem Kollektiv aus Autoren und Regisseuren erstellten französischen Serie »In Therapie« beginnt die zweite Staffel ungewohnt. Denn zu den speziellen Merkmalen dieser Produktion gehört, dass die Kamera das Sprechzimmer des Therapeuten nur selten verlässt, während das Geschehen annähernd in Echtzeit verläuft.
Jede Episode entspricht einem Wochentag. Am Freitag steht eine Supervision an. In der ersten Staffel suchte Dayan Rat bei seiner früheren Professorin Esther (Carole Bouquet). Seine Anwälte raten zur Aufnahme einer neuen, anerkannten Supervision. Dayans Wahl fällt auf die Bestsellerautorin Claire Brunet (Charlotte Gainsbourg). Neu hinzustoßende Zuschauer lernen Dayan, der sich den eigenen psychischen Wunden nur widerwillig stellt, auf diese Weise kennen. Das Stammpublikum wird die Bekanntschaft vertiefen.
Ein Wiedersehen gibt es mit Léonora und Damien. Vergeblich hatte Dayan sich bemüht, ihnen aus einer Ehekrise zu helfen. Jetzt kommen sie als getrenntes Paar und bringen ihren Sohn Robin zur Analyse. Der beneidet Spiderman und Batman. Denn die sind Waisen: »Die haben echt Glück.«
Neue Klienten sind die Architekturstudentin Lydia, der Unternehmer Alain, die Anwältin Inès, die bereits einmal bei Dayan in Behandlung war. Sie kündigt sich an mit den kryptischen Worten: »Sie schulden mir ein Kind.«
Ein Beispiel für das Spannungskonzept der Serie. Für Dayan wie fürs Publikum sind die Klienten Fremde, die sich nur mählich öffnen, ohne dass das Interesse des Betrachters je erlischt.
»En thérapie« ist die französische Adaption der israelischen Serie »BeTipul«. Auch die wurde von Arte ausgestrahlt. Das Konzept stammt von Nir Bergman und Hagai Levi, der vor seinem Filmstudium Psychologie belegt hatte. Mindestens 19 Länder haben eigene Versionen produziert. In den USA war es der renommierte Abokanal HBO.
Ein ungewöhnlicher Erfolg, auch angesichts der kammerspielartigen Schlichtheit des Konzepts. Meist fügen sich Raum und Zeit zu einer Einheit. Das verlangt wortgenau durchgearbeitete Drehbücher, eine präzise Ausleuchtung, eine findige Kameraführung. Und nicht zuletzt Schauspielerinnen und Schauspieler, die längere Strecken durchspielen können.
Von der Machart her fast eine Art Renaissance. In den USA gilt die Ära der Livefernsehspiele als das »Erste Goldene Zeitalter« des Fernsehens. Aufzeichnungsmöglichkeiten gab es noch nicht. Damals war vorherrschend, was bei »In Therapie«, wenngleich nicht live gesendet, heute wieder fesselt: Intimität und Intensität.
Die Geschichten mussten dem Publikum nahegehen. Buchstäblich. Das gelang so gut, dass sich die Filmindustrie einiger Stoffe bemächtigte. Die zwölf Geschworenen und Marty beispielsweise beruhten auf Fernsehspielen. Marty gewann vier Oscars und die Goldene Palme in Cannes. Schauspieler wie James Dean, Grace Kelly, Jack Lemmon, Steve McQueen starteten im Fernsehen ihre Karrieren – wer vor der Livekamera besteht, muss Cinemascope nicht fürchten.
An »En thérapie« lässt sich überdies exemplifizieren, dass Erfolgsziffern in Relation zu bewerten sind. Caroline Sallé rechnete in »Le Figaro« vor: Die Netflix-Serie »Lupin« wurde (Stand 2021) 70 Millionen Mal angeschaut. Arte erzielte mit »En thérapie« 35 Millionen Abrufe. Aber: Die Netflix-Zahlen gelten für 190 Länder, die Arte-Angaben nur für Frankreich und Deutschland. Wenn man auch noch die Zuschauer der 19 Adaptionen addieren würde, bliebe »Lupin« weit zurück.
OV-Trailer
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