DVD-Tipp: »No Looking Back« (2021)
Wer bei russischen Filmen zuerst an schwermütige Tristesse denkt, den erwartet hier eine explosiv schillernde Überraschung, voller Ideen und Einfälle. Gewiss, die Verhältnisse sind alles andere als erhebend und ermutigend, doch die kinematographische Verve, mit der Kirill Sokolow drei Frauengenerationen einer dysfunktionalen Familie kollidieren lässt, erinnert weniger an Andrei Tarkowski als an Jean-Pierre Jeunet, Anders Thomas Jensen, Edgar Wright oder Quentin Tarantino.
Zum Einstieg gibt es gleich mehrere toxische Mütter: Im Gefängnis stachelt eine Wärterinnenmatrone ihren Sohn dazu an, Olga zu vermöbeln, in den letzten Stunden vor ihrer Entlassung nach vier Jahren Haft, für einen tätlichen Angriff auf ihren Ex-Mann: »Meine Tochter wird ein anderes Leben haben als dein Sohn!«, schleudert sie ihren Folterknechten provozierend entgegen. Diplomatie und Zurückhaltung sind in der Welt von Kirill Sokulow keine Option, dafür hat sich zu viel Wut angestaut.
Die jüngste, Mascha, tritt sich wüst schimpfend im Garten ihre Empörung auf einer Lauftonne vom Herzen. Ihre Mutter Olga kann es kaum erwarten, die Tochter wieder in die Arme zu schließen, doch deren Oma Vera hat nicht vor, sie wieder herzugeben: »Aus ihr kann wirklich etwas werden«, meint sie, »aber nicht mit Olga.« Den Sorgerechtsstreit führt sie nicht mit Argumenten vor Gericht, sondern mit Fäusten, Messern und Knarren in direkter Konfrontation. »Dafür würdest du deine eigene Tochter umbringen?«, fragt ungläubig der beauftragte Killer und Ex-Mann. »Wenn ich muss«, erwidert lapidar die Mutter.
So beginnt eine wilde Verfolgungsjagd durch sattgrüne Wiesen und Wälder, ein in düster hochgetunten Farben funkelndes Roadmovie mit Elementen von Sozialdrama, Familiensatire, Splatter-Horror und schwarzer Komödie, das vor allem von der ungekünstelt ausgefuchsten Widerständigkeit der jüngeren Frauen lebt, der Nachwuchsentdeckung Sofia Krugowa und Viktoria Korotkowa, der Ehefrau des Regisseurs. Ergänzend bietet das Booklet eine Passage durch die Filmgeschichte bösartiger, krankhafter und komischer Mutter-Töchter-Konstellationen.
VÖ: 13. Mai 2022
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