Netflix: »Shtisel« Staffel 3
Es ist ein Paradox. Eigentlich wollen jene ultraorthodoxen Juden, die überwiegend im strengreligiösen Jerusalemer Viertel Geula leben, ja nichts anderes als unter sich bleiben. Doch nachdem »Shtisel« 2013 zunächst auf dem israelischen Satellitensender Yes ausgestrahlt und 2018 von Streaminganbieter Netflix verbreitet wurde, sind die Haredim in aller Munde. Auf der ganzen Welt fiebern Zuschauer mit, wie der schlitzohrige Rabbi Shulem die Thora auf seine Weise auslegt, derweil sein Sohn Akiva die Kunst des Leidens und das Leiden in der Kunst entdeckt.
Der liebevolle Blick auf den akribisch abgebildeten Alltag der ursprünglich osteuropäischen Chassidim hat längst Kultstatus erlangt. Auch bei den ultraorthodoxen Juden selbst. Sie schauen »Shtisel« – nicht auf Fernsehern, die in ihrer Community nicht gerne gesehen sind, sondern auf koscheren Smartphones. Und so sind nun, sechs Jahre nach der zweiten Staffel, weitere neun Episoden entstanden. Die beiden Drehbuchautoren Ori Elon und Yehonatan Indursky, die beide selbst orthodox aufwuchsen, heute aber säkular leben, leuchten die vertrackte Widersprüchlichkeit zwischen dieser religiösen Enklave und der sie umgebenden modernen Welt mit subtilem Witz aus.
Nirgendwo wird diese Doppelbödigkeit deutlicher als in der Schlüsselszene einer früheren Staffel. Rabbi Shulem, Rektor einer Schule, die die ultraorthodoxe Tradition am Leben erhalten soll, verbietet seinen Schülern, am Unabhängigkeitstag aus dem Fenster zu schauen. Zur Feier der Entstehung des Staates Israel sind nämlich »die Flugzeuge der Zionisten« am Himmel zu sehen. Doch dann öffnet Shulem heimlich ein Fenster, um selbst die beeindruckenden Düsenjäger zu bestaunen. Der Rabbi übertritt dabei nicht nur sein eigenes Verbot. Er ist obendrein auch fasziniert von der eigentlich tabuisierten Technik der modernen Welt. Dank dieser menschlichen, allzu menschlichen Widersprüchlichkeit stößt »Shtisel« überall auf Sympathien. Sogar in der muslimischen Welt.
In der neuen Staffel wird Shulem von Themen der säkularen Lebensweise noch weiter eingeholt. Nachdem er einen Schüler ohrfeigte, landet der Handy-Mitschnitt dieses Zwischenfalls im Netz. Shulem soll suspendiert werden. Doch auf seine unnachahmliche Art findet er Mittel und Wege, um seine Demission abzuwenden. Shulems Sohn Akiva muss indessen, um das Sorgerecht für sein Kind zu behalten, eine Scheinehe mit einer depressiven (aber ungemein attraktiven) Kunsthändlerin eingehen.
Beim Vortäuschen einer intakten Beziehung entstehen unmerklich wahre Gefühle im Falschen. Eigentlich ist das ja ein Muster aus einer trivialen Soap. In »Shtisel« funktioniert es aber perfekt. Weil die Darsteller bis in die kleinste Nebenrolle glänzend agieren und die Tragik jeder einzelnen Figur tiefenscharf ausgeleuchtet wird. Die Sogwirkung dieser Erzählung, die souverän zwischen bittersüßer Melancholie und teils grotesken Momenten changiert, hat literarische Qualität. Um die vielstimmige Geschichte zusammenzuhalten, setzt auch die aktuelle Staffel wieder auf eine einfallsreiche und humorvolle Bildsprache mit herrlich skurrilen Traumszenen – und einer hinreißenden Metaebene: Shulems Schwiegersohn Lippe Weiss arbeitet als Caterer für eine Produktionsfirma, die gerade eine Serie über ultraorthodoxe Juden dreht: Als ob »Shtisel« sich bei der Entstehung selbst über die Schulter schaut.
Damit nicht genug – auch das Gefühl des Betrachters, der den Geschicken dieser beladenen Menschen vor dem Bildschirm gebannt zusieht, ist integraler Bestandteil von »Shtisel«. So macht Farshlufen, ein verschlurfter Verlierertyp, sich in einer beiläufigen Szene über sich selbst lustig: »Ich sehe aus dem Fenster und bemitleide den armen Tropf, der mir gegenüber sitzt. Plötzlich bemerke ich, dass es kein Fenster ist. Sondern ein Spiegel.« Und plötzlich taucht die Frage auf: Sind wir nicht alle Shtisel? Wenigstens ein bisschen?
OmeU-Trailer
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