Netflix: »Oxygen«
Es gibt viele Möglichkeiten, einen Science-Fiction-Film auf die Beine zu stellen. Man kann mit einem Budget von 275 Millionen Dollar ein Dutzend überteuerte Stars unter Vertrag nehmen, die Pinewood-Studios anmieten, in die jordanische Wüste ziehen und mit Hightech-Effekten um sich werfen, um die neunte Episode von »Star Wars« zu inszenieren. Oder man macht es wie der französische Regisseur Alexandre Aja in »Oxygen«: baut eine Raumkapsel, steckt eine patente Schauspielerin hinein, vertraut seinem Drehbuch und darauf, dass das Publikum sich ein eigenes Bild von der Zukunft jenseits des begrenzten Settings macht.
Dass solche Einzelunternehmungen funktionieren können, haben Sam Rockwell in »Moon« (2009) und Sandra Bullock in »Gravity« (2013) eindrucksvoll bewiesen. Aber »Oxygen« dreht die Schraube der Vereinzelung und den Genre-Minimalismus noch ein paar Umdrehungen weiter. Eine vorerst namenlose Frau (Mélanie Laurent) wacht in einer medizinischen Versorgungskapsel auf, die sie wie ein hochtechnisierter Sarg umgibt. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist und wie sie hierhergekommen ist. Die freundlich-monotone Stimme des Betriebssystems nennt sie etwas unpersönlich »Omikron 267«, bietet Beruhigungsmittel an und verweist darauf, dass die Sauerstoffvorräte auf 34 Prozent gesunken sind und in spätestens 72 Minuten aufgebraucht sein werden. Ohne Administrator-Code lässt sich die intensivmedizinische Zelle nicht öffnen. Die Patientin glaubt zunächst, sich in einem Krankenhaus zu befinden. Aber die Versuche, mit dem installierten Kommunikationssystem Hilfe herbeizuholen, scheitern genauso wie die Lokalisierung.
Schon bald wird klar, dass die Gefangene sich nur befreien kann, wenn sie ihr Gedächtnis wieder in Gang bekommt. Erinnerungsbilder aus der Kindheit, ihres Geliebten und eines gentechnischen Labors, in dem sie gearbeitet hat, tauchen in ihrem Kopf auf und legen erste Fährten für eine Recherche auf Leben und Tod. »Oxygen« lebt von seinem konsequenten Erzählkonzept, das Countdown-Dramaturgie und die klaustrophobische Enge zum Ausgangspunkt macht. Durch die zurückkehrende Erinnerung wird Stück für Stück ein Bild vom Zustand der Welt außerhalb der Versorgungskapsel zusammengesetzt. Dass sich dahinter ein postapokalyptisches Zukunftsszenario verbirgt, ist keine echte Überraschung. Das persönliche Ringen der Patientin ist hier auch ein Kampf ums Überleben der Menschheit. Aber weder die konzeptionelle Stringenz des Sci-Fi-Thrillers noch die tapfere Mélanie Laurent, die als schauspielerische Einzelkämpferin durchaus überzeugt, können das aktuelle Rezeptionsdilemma von »Oxygen« lösen: In Zeiten von sozialer Distanz, Homeoffice und Ausgangssperre ist man eventuell nur bedingt gewillt, sich von einem Film in eine Kapsel einsperren lassen, um die beklemmenden Grunderfahrungen weiter zu vertiefen.
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