Netflix: »Neues aus der Welt«
Wichita Falls im Norden Texas, 1870. Captain Jefferson Kyle Kidd (Tom Hanks) reist durch den Staat und trägt dem zahlenden Publikum Nachrichten aus den Zeitungen vor. Eine Art wandelnde Ein-Mann-Presseschau. Früher war er, das erfährt man erst später in Paul Greengrass' Westerndrama »Neues aus der Welt«, selbst Zeitungsmacher und Besitzer einer Druckerei. Doch im Amerikanischen Bürgerkrieg hat er alles verloren, auch seine Frau, und nun liest er vor, aus Zeitungen von nah und fern, jeden Abend in einer anderen Stadt.
Dabei bringt er in gebündelter Form sowohl Besorgniserregendes wie eine Meningitis-Epidemie vor, aber auch Fortschrittliches wie den Bau einer neuen Eisenbahnstrecke oder die Forderung von US-Präsident Ulysses S. Grant, in Texas die Sklaverei abzuschaffen, bevor die Region wieder Teil der Union und damit Bundesstaat werden kann.
Letzteres gefällt hier natürlich nicht jedem. Man ist den freien Schwarzen aus dem Norden ebenso feindselig gegenüber wie etwa den Kiowa und anderen Ureinwohnern, die von den meisten Weißen pauschal Indianer und oft Schlimmeres genannt und auf Leben und Tod bekämpft werden.
Mit seinen beiden Pferden unterwegs in die nächste Kleinstadt stößt Kidd in einem Waldstück auf eine geplünderte Karre und entdeckt unweit an einem Baum dessen gehängten Besitzer mit einem Druckblatt an die Brust geheftet: »Texas sagt Nein! Das ist Land der Weißen«. Der Tote ist Kiowa, den Angriff überlebt hat nur ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen. Die Papiere weisen sie als Johanna Leonberger aus, eine deutschstämmige Waise, die nach dem Mord an ihren Eltern und der kleinen Schwester vor Jahren von dem indigenen Stamm aufgezogen wurde. Außer deren Sprache spricht sie ein paar Brocken Deutsch aus ihrer Kindheit, Englisch versteht sie nicht. In einer deutschen Siedlung 400 Meilen südlich soll es noch eine Tante und deren Mann geben, Kidd will das Mädchen selbst durch gefährliches Gebiet dort hinbringen. Ein ungleiches Duo in der Weite der Landschaft, auf der Suche und zugleich zurückgeworfen auf sich selbst und den Schmerz ihrer Verluste.
»Neues aus der Welt« erzählt auch ein Stück deutscher Auswanderergeschichte, denn Texas wurde von deutschstämmigen Migranten im 19. Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt, zur Blütezeit sprachen mehr als hunderttausend das sogenannte Texas-Deutsch. Der Western des britischen Regisseurs Paul Greengrass (»Bourne«-Trilogie) ist damit, wie zuvor schon »The Sisters Brothers« seines französischen Kollegen Jacques Audiard (2018), eine Auseinandersetzung mit der paneuropäischen Vergangenheit der USA. Das Mädchen wird gespielt von der Berlinerin Helena Zengel, die 2019 als Zehnjährige in »Systemsprenger« für Furore sorgte und nun ihre erste Hollywoodrolle spielt. Dialog hat sie hier kaum – und trotzdem eine starke, nie erzwungen wirkende Präsenz. Umso verwunderlicher ist es, dass die deutsch sprechenden Einwanderer allesamt von US-Darstellern und offensichtlich ohne Sprachcoach besetzt wurden.
Greengrass, der zusammen mit Luke Davis hier auch das Drehbuch schrieb nach Paulette Jiles' bislang nicht auf Deutsch erschienenem Roman, inszeniert dieses Westerndrama als stoisch-melancholische Heilungsgeschichte. Klassisch im besten Sinne, ohne nostalgisch oder gar reaktionär zu sein, im Gegenteil. Die Parallelen zwischen den Jahren nach dem Bürgerkrieg und dem heutigen Trump-traumatisierten Amerika, einem wiederholt verwundeten Land, sind deutlich, im Großen wie im Kleinen.
Die Suche nach Johannas Verwandten scheitert letztlich, weil manche Bande wichtiger sind als die biologischen. Der alte Captain erkennt das und erweist sich als progressiv-liberaler Geist. Er rät dem Mädchen, sich dem Schmerz zu entziehen und nicht zurückzublicken. Die Minderjährige wiederum ist weiser, als ihre jungen Jahre vermuten lassen, oder hat einfach sehr viel durchgemacht. »Um abzuschließen, muss man sich erinnern«, antwortet sie dem Witwer, der es besser wissen müsste. Aus dem Mund von Helena Zengel klingt das alles andere als altklug.
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