Netflix: »Midnight Mass«
»Midnight Mass« (Miniserie, 2021). © Eike Schroter / Netflix
Nur nicht hudeln! Mike Flanagan hat schon in »Spuk in Hill House« und »Spuk in Bly Manor« die Zuschauer:innen auf unerwartet exquisite Art auf die Folter gespannt, ihnen beigebracht, meditative, latent unheilschwangere Szenen zu ertragen, welche die begründete Hoffnung auf mehr weckten. Bei seiner neuen Serie »Midnight Mass« handelt es sich um keine Buchverfilmung wie bei den Vorgängern, sondern um ein persönlich geprägtes Originalwerk, in das Erinnerungen an seine katholische Kindheit einflossen. Es ist ebenso Rede- wie Horrorfilm, getaktet von intensiven Dialogen über Gott, Vergebung, Tod und Wiederauferstehung, von wuchtigen Predigten, aber auch intimen, oft herzzerreißenden Zwiegesprächen.
Und auf der Fischerinsel Crockett Island ist viel Zeit zum Reden, denn seit einer Ölkatastrophe sind die Einwohner verarmt. Wer kann, zieht weg. Doch Riley (Zach Gilford) kehrt zurück, frisch aus dem Gefängnis entlassen, in dem er, einst ein Erfolgsmensch, vier Jahre wegen eines tödlichen Autounfalls einsaß. Seine Familie empfängt ihn mit gemischten Gefühlen. Außerdem landet Pater Paul (Hamish Linklater) auf der Insel und stellt sich als Vertreter des viel geliebten Monsignore Pruitt vor. Der betagte Pruitt, so sagt Paul, sei seit seiner Pilgerreise ins Heiligen Land unpässlich. Paul schafft es nicht nur, der Gemeinde neuen Lebensmut einzuhauchen. Es geschehen wundersame Heilungen, auf die sich Inselärztin Sarah (Annabeth Gish) keinen Reim machen kann.
Das neue Glück der Inselbewohner und das dicke Ende werden in sieben biblisch betitelten Kapiteln geschildert. Als roter Faden dienen Kirchgänge und Eucharistie. Der Priester beschwört die Gläubigen, die Worte »Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut«, wörtlich zu nehmen. Gläubige werden an dieser Schauermär, in der Bibelzitate für jede Grausamkeit herhalten müssen, keine Freude haben. Doch wie Flanagan den Kummer der Charaktere ausbreitet, sie wieder aufrichtet, um dann des Pudels Kern zu enthüllen, das ist sehr stilsicher inszeniert, oft unter Gebrauch von atmosphärischen Plansequenzen. Das ambitionierte Arthouse-Flair, das in eine apokalyptische Horrorfantasie religiösen Wahns mündet, erinnert an die Filme nach Stoffen seines Idols Stephen King.
Der Elefant im Raum, das V-Wort, wird geschickt umfahren, zumal sowohl Paul wie auch seine Schäfchen trotz verdächtiger Indizien lange allzu ahnungslos sind. Für den vampirfilm-geschulten Zuschauer ergeben sich manche Widersprüche. Doch die Darsteller sind so eindrücklich, dass man Fragen nach der Logik schnell vergisst. Neben Hamish Linklater als beseeltem Priester gibt es zwei Monster: Eines ist digitaler Mummenschanz, das andere, viel grässlicher, Gemeindedienerin Bev – Samantha Sloyan –: eine »fromme Helene«, die beweist, dass das Unheil, das böse Menschen anrichten, übertroffen wird von dem Bösen, das die Guten im Namen einer höheren Gerechtigkeit anrichten.
OV-Trailer
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