Streaming-Tipp: »Stadtgeschichten«
Murray Bartlett und Laura Linney in »Stadtgeschichten« (Miniserie, 2019). © Netflix
Mary Ann (Laura Linney) sitzt im Flugzeug und bestellt sich nicht nur ein, sondern gleich zwei Glas Champagner. Sie ist sichtlich nervös, kehrt sie doch nach Jahren zum ersten Mal aus der Provinz nach San Francisco zurück und damit zu ihrer Wahlfamilie in der Barbary Lane 28, mit deren Hilfe sie sich einst als junge Frau vom Provinzmief befreit hat. Mit Mary Ann erlebt der Zuschauer ein Wiedersehen mit einer ganzen Clique exzentrischer Charaktere, die schon zuvor mehrere Generationen von Lesern und Serienguckern begleitet haben. Die neue Serie »Stadtgeschichten«, die am 7. Juni mit zehn Folgen auf Netflix startet, basiert auf der legendären Buchreihe des US-Schriftstellers Armistead Maupin, die zunächst als Fortsetzungsroman im »San Francisco Chronicle« erschien, ab 1978 auch in Buchform. Neun Bände waren es bis 2014. Zumindest in Deutschland weniger bekannt ist die Adaption als TV-Miniserie, deren erste Staffel 1993 vom britischen Channel 4 produziert wurde, 1998 und 2001 dann vom US-Bezahlsender Showtime.
Die Originalserie war damals eine Sensation. Anfang der Neunziger gab es nichts Vergleichbares im Fernsehen, weltweit. Andere LGBT-Hauptfiguren ließen noch Jahre auf sich warten, die »Stadtgeschichten« bereiteten den Weg für Formate wie »Will & Grace« (USA, ab 1998) und »Queer as Folk« (GB, 1999). Seine deutschen Fans erreichten die »Tales of the City« damals allenfalls als teure Import-DVDs.
Ähnlich wie der Fortsetzung von »Twin Peaks« 2017, bei der mit den Darstellern auch die Figuren um 25 Jahre gealtert sind, ist auch an den »Stadtgeschichten« die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Anna Madrigal (Olympia Dukakis), die transsexuelle und cannabiszüchtende Vermieterin des Hauses in den Hügeln des ehemaligen Hippie-Mekkas San Francisco, feiert zu Beginn der neuen Staffel ihren 90. Geburtstag. Und alle sind gekommen: alte Weggefährten wie Mary Ann und ihr bester schwuler Freund Michael »Mouse« Tolliver und Schürzenjäger Brian Hawkins. Olympia Dukakis und Laura Linney sind seit der ersten Staffel 1993 schon dabei, nur Michaels Darsteller wechselte. In der 2019-Version spielt ihn erneut ein anderer: Nun schlüpft Murray Bartlett in die Rolle, die ihm nach seinem Auftritt als midlifekrisengeplagter Dom in der anderen HBO-Serie über das queere Leben San Franciscos, »Looking«, wie auf den Leib geschneidert scheint.
Doch das Haus hat auch eine Reihe neue Bewohner: Brians lesbische Tochter Shawna (der heimliche Star des Sequels: Ellen Page) etwa, durchgeknallte Zwillinge, die vom Instagram-Ruhm träumen, oder der junge Transmann Jake, dessen Lebensgefährtin auch nach der Transition zu ihm hält.
»Stadtgeschichten« verhandelt so nebenbei auch den Generationenkonflikt der LGBTQI*-Gemeinde zwischen den Gründern der Schwulenbewegung der sechziger und siebziger Jahre, die für Bürgerrechte und gegen Stigmatisierung gekämpft und die AIDS-Krise überlebt haben, und jenen genderfluiden Queeries der Jahrtausendwende, die sich nicht mehr in Schubladen stecken lassen wollen.
Der Trick der Fortsetzung ist, dass die neuen »Stadtgeschichten« keine der bereits aus den Romanen bekannten sind; die Staffel setzt in der unmittelbaren Gegenwart ein. Wie schon vor mehr als vier Dekaden ist es Mary Ann, mit der das Publikum die Stadt (wieder)entdeckt. Der Blick ist dabei kein rein nostalgischer, auch wenn die Welt hinter dem berühmten Gartentor wie ein queeres Paradies erscheint. Draußen tobt nun der Turbokapitalismus, die Mietpreise sind horrend, angetrieben nicht zuletzt von den großen Techfirmen im nahegelegenen Silicon Valley (zu denen ja Serienproduzent Netflix selbst zählt). Und natürlich geht es auch um die Frage, wie sehr sich San Francisco und seine Einwohner seit der Hochphase von Freier Liebe, psychedelischen Drogen und Gegenkultur verändert haben. Gleich zu Beginn sagt Anna Madrigal in einem Interview den bemerkenswerten Satz in die Kamera, der den Ton der Serie angeben wird: »Wir sind immer noch Menschen, oder? ... zugegeben mit Fehlern, narzisstisch ... aber geben unser Bestes.« Es ist ein Vergnügen, ihnen dabei zuzusehen.
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