Erstaunlich vernünftig
1895, im Jahr der Erfindung des Kinos, enträtselte Sigmund Freud das Geheimnis des Traums. Knapp dreißig Jahre später beriefen André Breton und die Unterzeichner seines surrealistischen Manifests sich nicht nur auf »Freuds Entdeckung«, der »unser Dank gebührt«, sondern besonders auf den in den Kinderschuhen steckenden Film. Dessen eigentümliche Struktur schien besser als andere Medien in der Lage, der surrealistischen Haltung Ausdruck zu verleihen. Aus diesem Grund rücken das Deutsche Filmmuseum Frankfurt und die Darmstädter Mathildenhöhe die Relevanz des Filmischen für die antibürgerliche Kunstbewegung ins Zentrum einer Doppelausstellung. Schon im Titel der Frankfurter Schau blitzt der Widerspruch auf, an dem die Surrealisten sich abgearbeitet haben. Der Begriff »bewusste Halluzinationen« stammt von Jean Goudal, der auch als Theoretiker das Programm eines von jeder Logik befreiten Schaffens postulierte. Dabei musste er früh einsehen, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen der Filmproduktion mit dem freien Assoziieren der écriture automatique, dem surrealistischen Grundkonzept, unvereinbar sind.
Dennoch übte die Bewegung, deren Vielfalt in der Frankfurter Ausstellung nachvollziehbar wird, Einfluss auf Filmemacher aus. Eine Weltkarte zeichnet die Verbreitungswege nach, auf denen von Paris aus der surrealistische Esprit in die Tschechoslowakei, nach Polen, Serbien, Russland, Japan und Lateinamerika exportiert wurde. In den experimentell anmutenden (Schwarz-Weiß-)Filmen, die hier entstanden, ist allerdings eine gewisse Ermüdung nicht zu übersehen. Werden Wörter und Bilder aus ihrem Zusammenhang gelöst, um sie möglicht zufällig wieder zusammenzusetzen, dann erinnert diese »bewusste Halluzination« an die Aufforderung: »Sei spontan! Damit wären wir wieder beim Ausgang der Überlegung, bei Freud – und bei einem populären Missverständnis: Lautréamonts viel zitierte »Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«, mit der die Surrealisten ihr Konzept einer vermeintlich radikal entfesselten Metaphorik illustrierten, ist – zumindest was Freud betrifft – keineswegs »zufällig«. Im Gegenteil. Der Traum, so wie der Wiener Nervenarzt ihn interpretierte, ist determiniert. Seine Deutung lässt sich zwar nicht wissenschaftlich formalisieren, folgt aber jener unhintergehbaren Rationalität, gegen die die Surrealisten aufbegehrten.
Interessanterweise spiegelt sich diese Rationalität gerade in den Filmen, die bei Breton als Einzige Gnade fanden: In Un chien andalou von 1929 wollten Buñuel und Dalí zwar »kein Bild zulassen, zu dem es eine psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe«. Im Gegensatz zu anderen surrealistischen Experimenten zieht ihr Film aber noch heute in den Bann, weil Buñuel sich den ästhetischen und ökonomischen Gesetzen der Filmherstellung unterwarf. Mit 295 Einstellungen in 16 Minuten erreicht die Schnittfrequenz von Un chien andalou beinahe die Dichte der Duschszene in Psycho. Weil Buñuel mit der Montage nicht beliebig assoziiert, sondern von einer verfehlten Begegnung zwischen Mann und Frau erzählt, ist dieses Initialwerk vielleicht gar nicht so »surrealistisch« wie angenommen.
In L’Âge d’Or von 1930 variiert Buñuel dieses Konzept. Gegenwartskünstler, deren Ergebnisse in schachtelkinoartigen schwarzen Containern mit der warnenden Aufschrift »ab 18 Jahren« auf dem Platanenhain der Mathildenhöhe gezeigt werden, interpretieren die sechs einzelnen Sequenzen dieses Films auf eigenwillige Art neu. Eine Herausforderung ist der 40-minütige Schlussbeitrag »Härchen mit Momsen dran«. Anknüpfend an Buñuels provokative Verdichtung, der am Ende von L’Âge d’Or Christus als Überlebenden einer Sade’schen Orgie zeigt, interpretiert der Aktionskünstler John Bock das Werk des Marquis neu. Sade wollte, kurz gesagt, Fortpflanzung und Triebverzicht abschaffen, um in einem Fantasiekosmos die Ausschweifung als Ritual zu verewigen. In seiner tranceartigen Meditation parodiert Bock Sades Phantasmagorie mit einem an Schlingensief erinnernden Dilettantismus. Sade, umgeben von Sahnetorten, Filzpantoffeln, Brathähnchen und Schmodder. Statt écriture automatique gibt es hier eine buchstäblich automatisierte Lust. Das hat etwas.
»Bewusste Halluzinationen« im Filmmuseum bis 2.11.; »Der Stachel des Skorpions« in Darmstadt bis 5.10.
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