Wer baute Amerika?
»Der Brutalist« (2024). © Universal Studios
Die USA, das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, ziehen von jeher in großer Zahl Einwanderer an – und deren Erfahrungen spiegeln sich in unzähligen Filmen wider. Weit öfter als von Tellerwäschern, die zu Millionären werden, erzählen diese Filme allerdings von Existenzkämpfen, von Ausgrenzung und Gewalt – wie aktuell »Der Brutalist«, die Geschichte eines Holocaust-Überlebenden. Patrick Seyboth wirft Schlaglichter auf die immigrant experience im US-Kino
Zu Beginn von Franz Kafkas Fragment gebliebenem Roman »Der Verschollene« (aka »Amerika«) fährt der von seinen Eltern verstoßene sechzehnjährige Protagonist Karl Roßmann auf einem der großen Auswandererschiffe in den Hafen von New York ein und blickt auf die Statue der »Freiheitsgöttin«. In Kafkas Fantasie-USA trägt die Statue of Liberty in der hocherhobenen Hand allerdings anders als in der Realität keine Fackel, sondern ein Schwert – als sei die Freiheit eine Drohung.
Auch am Anfang von Brady Corbets jetzt im Kino startenden fiktiven Biopic »Der Brutalist« rückt die Freiheitsstatue ins Bild – mit Fackel, wie wir sie kennen. Doch die überforderte Wahrnehmung des ungarisch-jüdischen Architekten László Tóth (Adrien Brody), der das Grauen des Holocaust überlebt hat und nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten ein neues Leben beginnen will, lässt das Symbol des großen Versprechens dieses Landes ebenfalls bedrohlich erscheinen: Verkantet, fast auf dem Kopf stehend, ragt sie ins Bild, als sei auch sie nur ein weiteres Symptom einer grausam verrückten Welt.
Wie für Kafkas Verschollenen bedeutet das fremde Land für László Tóth zunächst einen Existenzkampf. In Ungarn einst ein renommierter Architekt, ausgebildet am Bauhaus Dessau, verdingt er sich erst als Gehilfe im Möbelhaus seines Cousins Attila, der ein Musterbeispiel für Assimilation abgibt: Zum Christentum konvertiert, hat er eine Katholikin geheiratet und seiner Firma den Fantasienamen »Miller & Sons« gegeben – »die Leute hier mögen Familienunternehmen«. Die Möbel, die er verkauft, bedienen den biederen Geschmack des Durchschnitts-Amerikaners. Zu solchen Verwandlungen und Kompromissen ist Tóth nicht fähig und auch nicht willens. Nach ein paar Rückschlägen scheint sich sein Schicksal dennoch bald zum Besseren zu wenden: Der steinreiche Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) beauftragt ihn, ein großes modernistisches Kulturzentrum zu erbauen. Außerdem können endlich Tóths Frau und Nichte aus Europa nachkommen. Doch je mehr Konflikte sich um Tóths künstlerische Kompromisslosigkeit und sein aufbrausendes Temperament auftun, desto deutlicher stellen sich die Machtverhältnisse heraus: Sein »Gönner« Van Buren behandelt Tóth wie einen Lakaien, und Van Buren junior weist ihn unmissverständlich darauf hin, dass »Leute wie er« nur geduldet seien.
»Der Brutalist« zielt auf Grundsätzliches. So individuell der Film seine drei ungarischen Protagonisten zeichnet und von ihren Traumata durch Verfolgung, KZ und den Verlust von Angehörigen erzählt, so symbolhaft aufgeladen sind Aspekte wie die Antagonismen zwischen einheimischem »WASP« (White Anglo-Saxon Protestant) und jüdischem Flüchtling sowie zwischen Kapitalist und Künstler. Auch der Schauplatz Philadelphia, Ort der Unabhängigkeitserklärung und »Wiege der US-amerikanischen Nation«, könnte bedeutungsvoller nicht sein. Als Architekt wiederum wird der Einwanderer László Tóth ganz buchstäblich zu einem Erbauer des modernen Amerika – wie ja letztlich die USA von Anfang an von Immigranten erschaffen wurden.
Denn wie bei kaum einem anderen Land ist die Geschichte der Einwanderung in die USA die Geschichte des Landes selbst – bis heute. Alle, die dort leben und nicht von Native Americans abstammen oder von Menschen, die als Sklaven dorthin verschleppt wurden, stammen entweder von Einwanderern ab oder sind selbst immigriert – auf der Flucht vor Armut, vor politischer, ethnischer, religiöser Verfolgung oder auf der Suche nach einem besseren Leben. Die Herkunftsländer und -regionen haben sich dabei immer wieder wellenartig verschoben, je nach Wetterlagen in Politik und Wirtschaft. Dabei kamen auch immer wieder rassistische Stimmungslagen sowie Restriktionen gegen bestimmte Einwanderergruppen ins Spiel – wie aktuell gegen all jene aus dem Süden des eigenen Kontinents. Doch nach wie vor sind 14 Prozent der aktuellen US-Bevölkerung Immigranten, wurden also nicht in den USA geboren. Der amerikanische Traum, so abgegriffen und schwammig dieser Ausdruck ist, steht hartnäckig für das Versprechen, dass in den USA eine bessere Zukunft möglich sei.
Seit seinen Anfängen erzählt daher auch das Kino immer wieder von Einwanderern und ihren Erfahrungen, von den ersten Schritten auf dem neuen Kontinent, von erfolgreicher Anpassung und steilen Karrieren, doch häufiger noch von den Härten des Existenzkampfs – und vom Scheitern. Dass dabei bisher meist Immigrant*innen aus Europa im Zentrum standen, ist für die Perspektive Hollywoods und dessen anvisiertes Publikum sicher symptomatisch, doch inzwischen zeichnet sich ein Wandel zu einer diverseren Repräsentation ab. Schon Charles Chaplin hat 1917 in »The Immigrant« an der Ikonographie des Immigrantendramas mitgewirkt, die Ankunft mit dem Schiff gezeigt, die Freiheitsstatue ebenso wie die erwartungsvollen, vielleicht auch bangen Blicke der Ankömmlinge prominent ins Bild gerückt. Und bereits Chaplin als neuer Amerikaner erfährt am eigenen Leib, dass er um jeden Penny kämpfen muss, wenn er überleben will – und dass auch hier zumindest ganz unten das Recht des Stärkeren gilt.
Ellis Island war als Sitz der Einwanderungsbehörde lange Zeit das Nadelöhr für alle Einwanderer und ist daher neben der benachbarten Statue of Liberty ein weiteres zentrales Motiv unzähliger Filmszenen, meist mit Menschenmassen und Gedränge an den Schaltern der Immigration Officers. Bereits hier deutet sich an, wie sehr man in der Neuen Welt auf Glück angewiesen ist – und auf das Wohlwollen der Einheimischen. Marion Cotillard als junge Polin Ewa wird in James Grays »The Immigrant« (2013) von ihrer Schwester getrennt, bei der Tuberkulose festgestellt wird – was mehrere Monate Quarantäne bedeutet. Ewa selbst wird aus nebulösen Gründen verdächtigt, von »niederer Moral« zu sein und darf ebenfalls fast nicht einreisen. Saoirse Ronan als Eilis aus Irland dagegen wurde in »Brooklyn« (John Crowley, 2015) bereits von einer Mitreisenden dahingehend gebrieft, wie sie sich stylen und geben soll, um gesund und anständig zu wirken. Sie besteht problemlos die Prüfung durch den Immigration Officer. Auch ihr weiterer Weg fällt weniger steinig aus als der von Ewa: Die Polin gerät sogleich in schlechte Gesellschaft, wird vom windigen Bruno (Joaquin Phoenix) in die Prostitution gedrängt und steht bald als erotische Travestie der Freiheitsstatue auf seiner Revuebühne: ein schönes, schräges Bild von den Abgründen, die die neue Freiheit in Amerika zu bieten hat.
Die junge Irin Eilis dagegen hat einen irischen Geistlichen als Ansprechpartner in New York, und der hat ihr sogar schon ein Zimmer und einen Job besorgt. Ihr neues Leben als anpassungswillige »Lace Curtain Irish« (im Gegensatz zu den angeblich rückständigen, zur Adaption unfähigen »Shanty Irish«) ist behütet, und so erzählt der Film weniger von den äußeren Herausforderungen des Ankommens denn von Eilis' Heimweh und ihrer Zerrissenheit zwischen zwei Welten – dem vertrauten ländlichen Irland und der Metropole New York – respektive zwei Männern in diesen Welten. Ganz am Rande thematisiert »Brooklyn« aber auch Vorurteile zwischen verschiedenen Einwanderergruppen (»We don't like the Irish«, sagt der freche kleine Bruder ihres Italofreundes) sowie die Gefahren der Verelendung: Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung, auf der Eilis aushilft, sitzen Scharen abgezehrter, verarmter alter Iren, während gälische Songs zum Besten gegeben werden. »Das sind die Männer, die hier die Tunnel, die Brücken und die Highways gebaut haben«, kommentiert der Pfarrer.
Noch einmal Ellis Island: Im Jahr 1901 steht da ein kleiner Junge aus Sizilien an einem Fenster der Einreisebehörde, ein Schild mit Nummer und Name um den Hals, und schaut auf die Freiheitsstatue, die sich in der Glasscheibe spiegelt und fast wie eine Fata Morgana aussieht. Als Don Vito Corleone wird dieser Junge eine steile Mafiakarriere machen, doch seine Anfänge in den USA, die Francis Ford Coppola in »Der Pate II« in Rückblenden erzählt, während er parallel die Laufbahn seines Sohnes Michael Corleone entfaltet, sind noch ganz gesetzeskonform. Der junge Mann (nun von Robert De Niro gespielt) arbeitet bei einem Gemüsehändler in New Yorks Little Italy, bevor er Bekanntschaft mit den Machtverhältnissen im Viertel macht. Als er einem Bekannten einen Gefallen tut und ein paar Waffen versteckt, ist das der Auftakt zu einer kriminellen Laufbahn, die er mit Cleverness und Mut vorantreibt. Selbstverständlich auch mit wenig Skrupeln – und doch porträtiert Coppola den neu Eingewanderten gerade in der Parallelkonstruktion zu dessen Sohn Michael (Al Pacino), also zur nachfolgenden Generation, als – gemäß Mafiabegriffen – deutlich prinzipientreuer und »ehrenhafter«. Das System der Gewalt, in das Vito erst hineinwächst, steckt seinem Nachwuchs schon in den Knochen.
Es ist auffällig, wie viele Gangsterfilme zugleich detailreich von migrantischen Milieus erzählen und innerhalb der Genreregeln Geschichten von Assimilation – an Gewaltsysteme –, von steilen Karrieren und deren meist tödlichen Enden entwickeln. Wie die Pate-Trilogie, Scorseses »Mean Streets« oder »Goodfellas« vor allem italoamerikanische Mafiastrukturen beleuchten, Brian De Palma in »Scarface« den Aufstieg eines kubanischen Drogenbosses zeigt und »The Departed« (Scorsese) oder »Miller's Crossing« (Joel und Ethan Coen) von irischstämmigen Gangstern erzählen, porträtiert Sergio Leones epischer »Es war einmal in Amerika« die ärmliche Welt jüdischer Einwanderer aus Osteuropa in der Lower East Side in den 1920er Jahren und zeigt das Heranwachsen einer Jungs-Clique zur Gangsterbande als ganz folgerichtigen Lernprozess. Denn es herrscht das Recht des Stärkeren, was schon beim korrupten irischen Streifenpolizisten des Viertels anfängt. An seiner Hauptfigur »Noodles« (Robert De Niro) zeichnet Leone gnadenlos die moralische Zersetzung durch das Verbrechen nach. Vom Treueschwur zwischen ihm und seinen Jugendfreunden bleibt am Ende ebenso wenig übrig wie von seiner großen Liebe zu Deborah (Elizabeth McGovern), die er schließlich sogar vergewaltigt. Sie verkörpert das Gegenbild zu ihm, macht mit Fleiß und Durchhaltevermögen Karriere als Tänzerin und ist im Begriff, in Hollywood zu reüssieren.
»Den Sieger kann man schon am Start erkennen. Und nicht nur den Sieger, auch den Verlierer«, sagt Noodles einmal. In »Heaven's Gate« (1980) von Michael Cimino, einem der letzten großen Filme des »New Hollywood« und wegen seines finanziellen Desasters angeblich mitverantwortlich für dessen Ende, thronen die Sieger im noblen Club, während die Verlierer in vollkommen überfüllten Gemeinschaftsräumen mit mehrstöckigen Betten hausen. Die einen sind die Viehbarone, die anderen die Einwanderer, überwiegend aus Osteuropa, die um 1890 in großen Mengen dem Versprechen auf ein eigenes Stück Land folgen und in die Weite Wyomings strömen. Doch Armut und Hunger zwingen sie immer wieder, Vieh von den Großzüchtern zu stehlen. Ähnlich wie in »Der Brutalist« geht es in diesem »ersten Agitprop-Western« (Monthly Film Bulletin, 1981) immer auch um Klassenfragen. In der Prärie allerdings steht das nackte Leben auf dem Spiel: Wie in den zugrundeliegenden historischen Ereignissen, die als »Johnson County War« in die Geschichte eingingen, heuern Viehzüchter – mit Billigung der höchsten US-Administration! – Söldner an, die eine lange Liste verdächtiger Immigranten kurzerhand umbringen sollen. Es seien schließlich »nur Diebe und Anarchisten, die es auf unser Hab und Gut abgesehen haben«, wie es in klassisch xenophober Diktion heißt. In Ciminos höchst melancholischem Abgesang auf den amerikanischen Mythos der Chancen für jeden und jede, der oder die nur guten Willens und fleißig genug ist, verbirgt sich allerdings auch die Andeutung einer Utopie. Bevor das Kämpfen und Sterben seinen Lauf nimmt, entwirft der Film in der berühmten langen Sequenz auf der Rollschuhbahn mit dem titelgebenden Namen »Heaven's Gate« ein Bild von walzerbeschwingter Brüderlichkeit und ausgelassener Freude unter den Einwanderern – eine vielsprachige Gemeinschaft der Unterprivilegierten.
Leidenschaftlich Partei für solche Unterprivilegierten ergreift auch Robert Rodriguez in seiner blutigen Grindhouse-Satire »Machete« von 2010, die zugleich eine vielfältige Verschiebung des Themas Immigration im Film des neuen Jahrtausends andeutet: von den gewichtigen Epen, die vor allem Einwanderer aus Europa als Hauptfiguren haben, hin zu kleineren, oft unkonventionellen Genrefilmen sowie alltagsnahen Dramen – und, noch wichtiger: hin zu bislang unterrepräsentierten Einwanderungsländern.
So erzählt »Machete« von einem geheimen Netzwerk zur Unterstützung illegaler Einwanderer aus Mexiko – darunter Danny Trejo als mexikanischer Ex-Bundepolizist, der im Grenzgebiet von Texas gestrandet ist, aber noch eine Rechnung offen hat. Hintergrund des Films ist die schon damals grassierende antimigrantische Stimmungsmache. Von heute aus betrachtet wirkt der Film fast visionär, geht es doch neben selbst erklärten Heimatschützern, korrupten Politikern, Drogenschmuggel und Ausbeutung der Illegalen auch um einen fremdenfeindlichen US-Senator, der Mexikaner als »Parasiten« bezeichnet und dessen Umfragewerte in die Höhe schießen, als er ein Attentat überlebt. Machete räumt dann jedoch in feinster Exploitation-Manier und mit scharfer Klinge unter den Bösewichten auf – wobei nicht nur über weiße Fieslinge gelacht werden darf, auch Mexikanerklischees werden weidlich ausgekostet. Wo sonst als in einem Taco-Truck sollte etwa das Hauptquartier des klandestinen Hilfsnetzwerks versteckt sein?
Den lange Zeit ebenfalls kaum – oder wenn, dann meist als Randfiguren – in Filmen sichtbaren Einwanderern aus asiatischen Ländern widmet sich seit einigen Jahren die Produktionsfirma A24 mit sowohl beim Publikum wie auch bei der Kritik erfolgreichen Filmen wie dem siebenfachen Oscargewinner »Everything Everywhere All at Once« von Daniel Kwan und Daniel Scheinert oder »Past Lives« von Celine Song. Auch Lee Isaac Chuns autobiografisch geprägtes Familiendrama »Minari« von 2020 produzierte A24: Ohne Verklärung, ohne Überdramatisierung und ohne Klischees erzählt er vom Versuch eines Neuanfangs der Familie Yi, die aus Korea kommend zunächst ein paar Jahre in Kalifornien gelebt und sich nun im ländlichen Arkansas ein Stück Land gekauft hat. Jacob Yi (Steven Yeun) will eine eigene Farm aufbauen, mit typisch koreanischem Gemüse, seine Frau Monica (Han Ye-ri) arbeitet in einer Kükenfarm; zur Betreuung des kleinen herzkranken David und seiner Schwester Anne holt man sich bald noch die Oma aus der Heimat dazu.
Wenn Koreaner zu den Hillbillys ziehen, könnte man Rassismus als zentrales Thema erwarten. Nicht so in »Minari«: Der Kontakt mit den Alteingesessenen stellt sich als überraschend harmonisch heraus, dafür haben die Yis bald umso mehr Probleme mit der Wasserversorgung der Farm, dem finanziellen Druck und schon länger schwelenden Ehekonflikten. »Minari« zeigt auf so einfühlsame wie unsentimentale Weise, wie eine ganz normale Familie in der Fremde etwas Neues aufbauen und sich dabei ein Stück Heimat und kulturelle Identität bewahren will. Er zeigt, wie schwer das sein kann, und auch welches Glück das Gelingen verspricht. Darin ist er gar nicht so weit von »Der Brutalist« entfernt, obwohl der so ganz anders daherkommt und mit seiner epischen Wucht eher an die großen Einwanderer-Epen anknüpft. Doch Filme wie »Minari« oder »Der Brutalist« stellen auf ihre je unterschiedliche Weise ähnliche Fragen. Zum Beispiel: Wann hört ein Immigrant auf, Immigrant zu sein? Wann ist er einfach nur Amerikaner?
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