Theater: Aus dem Zwischenreich
»Innen.Nacht« (Bert Zander)
Das deutschsprachige Theater hat sich in der Pandemie aus dem Geist des Fernsehens und des Kinos neu erfunden
Die Bühne ist ein schwarzer, beinahe leerer Raum. Staub liegt auf den Brettern. Ein paar Stellwände erwecken den Eindruck, sie wären vergessen worden, als die Menschen diesen Ort aufgegeben haben. Nun, Monate, Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte später betreten zwei Fremde den verlassenen Ort. Der eine kommt von außen, anscheinend aus dem All, und trägt einen Raumanzug. Die andere steigt aus einer Luke im Bühnenboden empor und trägt einen Schutzanzug. Sie scheint aus einem Bunker an die Oberfläche zu kommen und nach Überlebenden zu suchen. Was sie finden, sind überlebensgroße Videoprojektionen von vier Schauspielerinnen und Schauspielern, die Geschichten von Hoffnung und Schmerz, von Hass und Widerstand, von Kindern und ihren Eltern erzählen. Geschichten des Scheiterns und Weitermachens.
»Innen.Nacht« hat der Regisseur und Videokünstler Bert Zander dieses Projekt genannt, das im März 2021 am Theater Oberhausen Premiere hatte. Es ist eine der vielen Inszenierungen, die in den langen Monaten des zweiten Lockdowns entstanden sind, obwohl die Schauspielhäuser und freien Spielstätten für Publikum geschlossen waren. Anders als im Frühjahr 2020, als die Pandemie die Arbeit an den Theatern weitgehend zum Stillstand gebracht hatte, war die zweite Schließung der Kultureinrichtungen für die deutschsprachigen Bühnen eine Phase der Suche nach neuen oder zumindest andersartigen Formen des Spiels.
Im ersten Lockdown haben die Theater vor allem Aufzeichnungen ihrer alten Inszenierungen ins Netz gestellt. Es gab zwar auch schon erste kreative Auseinandersetzungen mit den durch die Pandemie entstandenen neuen Gegebenheiten. Aber die kamen größtenteils aus der freien Szene. Einige Kollektive wie machina eX oder vorschlag:hammer haben den Messengerdienst Telegram für interaktive Begegnungen mit einem Publikum genutzt, das die eigenen vier Wände nicht verlassen musste. Andere wie das kainkollektiv oder die britische freie Gruppe Forced Entertainment haben sich bewusst der Ästhetik von Videokonferenzen bedient und ihre Performerinnen und Performer vor Computerscreens agieren lassen. Trotz aller Kreativität, die in diese Arbeiten geflossen ist, waren sie doch als eine Art von Notlösung markiert. Die Künstlerinnen und Künstler, denen durch den Lockdown ihre angestammten Orte verloren gegangen sind, fanden im Digitalen eine neue, aber noch recht widerspenstige Bühne.
Im November mussten die Theater erneut schließen. Doch diesmal reagierten die Stadt- und Staatstheater nicht nur. Sie ergriffen die Initiative. Schon drei Wochen nach der Verkündung des zweiten Kultur-Lockdowns kam mit Sebastian Hartmanns live aus dem Deutschen Theater Berlin gestreamter Adaption von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« eine Inszenierung heraus, in der sich eine neue Form andeutete. Längst nicht jeder Stream, der seither teils live, teils on demand aus den Theatern gesendet wurde, hat so geschickt Theatrales und Filmisches verbunden.
Manche live aus den Theatern übertragenen Streams wie der von Jürgen Flimms am Schauspiel Köln entstandener Inszenierung von Schillers »Don Karlos« unterschieden sich kaum von typischen Fernsehaufzeichnungen, wie sie etwa Jahr für Jahr im Umfeld des Berliner Theatertreffens entstehen. Wieder andere wie die aus dem Wiener Burgtheater gestreamte Onlinepremiere von Shakespeares »Richard II.« in der Inszenierung von Johan Simons weckten trotz einiger überraschender Kamerapositionen vor allem die Sehnsucht nach dem Liveerlebnis im Theatersaal. Aber es gab eben auch Arbeiten wie Bert Zanders »Innen.Nacht«, die einen anderen Blick auf das Theater und seine Formen eröffnen.
Spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts gehören Videobilder zum Standard-Repertoire des deutschsprachigen Regietheaters. Was zunächst vor allem eine Möglichkeit war, Bilder aus geschlossenen Räumen auf und hinter der Bühne für das Publikum im Saal sichtbar zu machen, entwickelte sich in den vergangenen zehn Jahren zu einem vielfältigen Stilmittel, das die Grenzen zwischen Film und Theater immer fluider werden ließ. Im Zuge der Streams sind diese Grenzen nun endgültig gefallen. Nicht zufällig nennt das Schauspiel Köln sein Onlineprogramm »Dramazon Prime«. Die Anspielung ist so offensichtlich wie all die filmischen Zitate, die in Pınar Karabuluts Verfilmung von Ewald Palmetshofers Stück »Edward II. Die Liebe bin ich« eingeflossen sind.
Karabulut und das Schauspiel Köln haben diese zum Teil extrem bunte, mal trashige und mal tragische Überschreibung von Christopher Marlowes Tragödie als sechsteilige Miniserie veröffentlicht und damit ihren Anspruch, Theater auf der Höhe von Netflix und Amazon Prime zu machen, noch einmal deutlich unterstrichen. »Edward II.« wirkt wie ein Befreiungsschlag, vor allem für die junge Regisseurin, die auch in ihren Bühneninszenierungen immer mit vielen popkulturellen Anspielungen jongliert. Im Serienformat konnte sie ihrer Vorliebe für die Camp-Ästhetik noch ungehemmter frönen und so einen queeren Kosmos kreieren, der im deutschen Theater seinesgleichen sucht. Aber auch für ein an die Konventionen moderner (Mini-)Serien gewöhntes Publikum hat Karabuluts wilder Mix unterschiedlichster Stile und Ästhetiken etwas Überwältigendes. Denn das Theater kann sich tatsächlich Freiheiten nehmen, die in dieser Form keinem Showrunner gestattet würden.
Noch reizvoller als Serien wie »Edward II.« oder Theaterfilme wie »Autos« nach dem gleichnamigen Stück von Enis Maci, das der Regisseur Florian Hein am Schauspiel Dortmund in ein bruchstückhaftes cineastisches Experiment verwandelt hat, waren die Livestreams, die sowohl die Grenzen des Theaters als auch die des Films hinter sich gelassen haben. So entsteht in »Innen.Nacht« aus dem Zusammenspiel der Projektionen, die wie Höhlenmalereien des digitalen Zeitalters wirken, und der beiden Akteur:innen auf der Bühne ein faszinierendes Zwiegespräch zwischen Menschen und ihren technischen Reproduktionen. Das würde sich zwar auch im Theater einstellen. Aber die Rezeption am Bildschirm schärft den Blick dafür, was die Menschen in der Pandemie verloren haben.
Auf ganz neues Terrain haben sich die Theater begeben, die Inszenierungen live über die Plattform Zoom gestreamt haben. Diese Experimente, zu denen neben Alexander Nerlichs am Stadttheater Ingolstadt entstandener Adaption von E.T.A. Hoffmanns »Der Sandmann« auch die vom Residenztheater München gesendete Uraufführung von Michel Decars »Rex Osterwald« gehörte, schaffen eine ganz neue Verbindung zwischen den Performern auf der einen und dem Publikum auf der anderen Seite. So haben die Zuschauerinnen und Zuschauer während der gesamten Vorstellung von David Mosers Zoom-Inszenierung ihre Kameras laufen lassen und waren für Lukas Rüppel, den Darsteller des autokratischen Politikers Rex Osterwald, präsent. Mehr noch als im Theater ergeben sich dadurch Momente eines intimen Austauschs, der Rüppels Spiel durchaus beeinflusst. Zudem ermöglicht Zoom eine Verknüpfung der Livesituation mit vorproduzierten Videos, die sich so auf der Bühne nicht realisieren ließe. In Nerlichs »Sandmann«-Inszenierung werden Nathanaels Alptraumgesichte zu horrorfilmreifen Momenten, die gerade durch die Gleichzeitigkeit von Livespiel und vorinszeniertem Schrecken einen Riss in der Wahrnehmung erzeugen.
Solche Risse inszeniert auch Sebastian Hartmann, der mit der schon erwähnten »Zauberberg«-Adaption und einer für den Livestream erstellten Überarbeitung seiner 2019 am Deutschen Theater entstandenen Inszenierung von Shakespeares »Lear« zwei der radikalsten Streamingexperimente der vergangenen Monate gewagt hat. Beide Arbeiten sind durch das exaltierte Spiel des Ensembles, das stimmlich immer wieder an Grenzen geht, deutlich in der Bühnenkunst verankert. Aber durch den extrem mobilen Einsatz von (Hand-)Kameras eröffnet Hartmann dem Theater Räume jenseits der eigentlichen Bühne. Die filmischen Mittel ergänzen das Spiel nicht einfach, sie verschmelzen mit ihm zu einer Einheit, in der sich die Gegensätze von live und vorproduziert, von Gegenwart und Vergangenheit auflösen und selbst menschliche Körper sich zu verflüssigen scheinen. Die Überlagerung der Bilder im Livestream, die jegliche Verwandlung denkbar macht, führt auch zu einer Überlagerung der Kunstformen Theater und Film. Hartmanns »Lear« ist beides und doch keins von beidem, ein gewaltiger Schritt in Richtung einer neuen Kunst, die die Flüchtigkeit des Theaters mit den nahezu unbegrenzten bildlichen Möglichkeiten des Films vereint.
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