Junge Szene Nahost: Weckt die Nachbarn auf!
»Gaza Surf Club« (2016) © Farbfilm Verleih
Der Nahe Osten, die arabische Welt: Das scheint im Kino vor allem eine Problemzone zu sein.Tatsächlich aber suchen immer mehr Filmemacher die Lücken im System: popkulturelle Biotope, Orte widerständigen Alltagshandelns. Über Rapper und Raver zwischen Gaza und Algier
Die Berlinale, Mutter aller politischen Filmfestivals, lädt in den letzten Jahren verstärkt Filme aus der arabischen Welt ein. Im Wettbewerb, im Forum und im Panorama des Festivals laufen Beiträge aus Algerien, Marokko, Ägypten, dem Libanon, aus den palästinensischen Gebieten und Syrien. 2016 war mit der romantischen Komödie »Barakah Meets Barakah« von Mahmoud Sabbagh sogar Saudi-Arabien am Start. Kurios, denn in Saudi-Arabien gibt es keine Kinos.
Alle Filme sind in Krisenregionen entstanden, in einer trotz aller Widrigkeiten inspirierenden Umgebung. Der ägyptische Filmemacher Tamer El Said meint dazu: »Die Wahrnehmung von Leben und Tod ist anders, wenn man sich in einem Krieg befindet.« Und: »Wir fühlen immer eine besondere Dringlichkeit in unserem Leben, in unserer Kunst.« Jenseits der Dominanz des Politischen beschäftigen sich die Filme aus dem arabischen Raum aber auch verstärkt mit dem komplizierten Alltag der Menschen, ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, die sie sich auch angesichts von Krisensituationen, Kriegen oder totalitären gesellschaftlichen Strukturen nicht austreiben lassen. Zunehmend wenden sie sich dabei der Lebensweise junger Leute sowie der Pop- und Alltagskultur zu. Vier unterschiedliche Werke aus den letzten zwei Jahren, die in Gaza, im Iran und in Ägypten spielen, stehen beispielhaft für diese Entwicklung.
Drei der Filme verbindet die Musik. »Junction 48« (2016) vom israelisch-amerikanischen Regisseur Udi Aloni, die Dokumentation »Raving Iran« (2016) der Schweizerin Susanne Regina Meures und »Ein Lied für Nour« (2015) des Ägypters Hany Abu-Assad handeln von Menschen, die ohne Musik nicht leben können. Gemeinsam ist den Filmen darüber hinaus, dass die privaten Wünsche und künstlerischen Ambitionen für die Protagonisten ohne Kampf nicht zu verwirklichen sind.
»Junction 48« erzählt von dem Palästinenser Kareem (Tamer Nafar). Er lebt in Lod, unweit von Tel Aviv. Bis 1948 hieß der Ort Lyd. In diesem Jahr, erfährt man zu Beginn von Udi Alonis Film, wurden Zehntausende Palästinenser vertrieben, um Platz für jüdische Siedler zu schaffen. Seither ist Lod eine palästinensisch-jüdische Stadt. Spannungen und Konflikte zwischen »48ern«, also Palästinensern und Israelis, sind vorprogrammiert. Kareem, Ende 20, arbeitet in einem Call-Center. Auf dem Weg nach Hause rappt er im Zug, er träumt von einem Dasein als Hip-Hop-Star. Kareem-Darsteller Tamer Nafar, der sich als Frontmann der Band DAM einen Namen gemacht hat, hat zusammen mit Oren Moverman (»The Messenger«) das Drehbuch für »Junction 48« geschrieben. Der Tod seines Vaters bedeutet eine Zäsur für Kareem. Er wendet sich ernsthaft der Musik zu, arbeitet an seiner Karriere, politisiert sich gleichzeitig und entwickelt Fluchtimpulse: »Ich muss raus aus diesem Mist.«
Die Liedtexte in »Junction 48« spiegeln die Motive des Films: die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und die Lovestory zwischen Kareem und Manar (Samar Qupty). Mal aufgekratzt, mal melancholisch verbindet Tamer Nafars Stimme die Extreme. In Erinnerung bleibt vor allem der motivierende Ton des Songs »Hände in die Luft«: »Hände in die Luft / Erhebt die Stimme / Bringt die Wände zum Wackeln / Weckt die Nachbarn auf.« Eine optimistische Note.
Die Dokumentation »Raving Iran« von Susanne Regina Meures bewegt sich in einer Gesellschaft, in der die Sittenpolizei gegen »satanische« Partys, »frivole« Kleidung und »obszöne« CDs vorgeht. Kein ideales Biotop für die beiden jungen Männer Anoosh und Arash alias Blade & Beard. Die DJs veranstalten illegale Partys, bei denen House-Musik und Technobeats die Körper der Teilnehmer in Bewegung bringen. Nach einer dieser durchtanzten Nächte irgendwo in der Wüste liegen die jungen Leute völlig fertig im Sand. Viele der Szenen in »Raving Iran« sind in Guerilla-Manier mit Handys aufgenommen, zahlreiche Gesichter erscheinen verfremdet. Anoosh und Arash wissen um die Risiken ihrer Musikleidenschaft; der Film zeigt, welche Vorsichtmaßnahmen die DJs ergreifen müssen, und wie Schmiergelder fließen. Die Ängste der Protagonisten kommen auch zur Sprache.
Die Aktivitäten des Duos, das davon träumt, einmal bei »Lethargy«, einem Straßenfestival in Zürich, aufzutreten, generieren komische Momente. Zum Beispiel den im Kultusministerium, in dem sie erfahren, dass englische Texte, Frauen mit Make-up und Leadsängerinnen (»Habt ihr schon mal welche gesehen – im Iran?«) auf Plakaten verboten seien. Was ist mit Piercing? Antwort: »Sind Sie noch ganz bei Trost?« Vor politischem Aktivismus werden die Musikbegeisterten an anderer Stelle gewarnt: »Dann werden sie euch hinrichten.«
In Anoosh und Arash vereinen sich Widerständigkeit und Naivität, Dickköpfigkeit und Träumerei. Sie schaffen es schließlich, zum Rave in die Schweiz eingeladen zu werden und lernen den Geschmack von Freiheit kennen. »Ich kann so nicht leben«, sagt Anoosh über die Verhältnisse daheim. Was tun? Liegt die Zukunft im Iran oder als Asylant in Europa? Der Film entlässt die jungen Männer und den Zuschauer in ein ungewisses Schicksal. Kein Happy End in Sicht.
Von Glück und Karriere träumen auch Mohammed und seine Schwester Nour in Hany Abu-Assads »Ein Lied für Nour«. Sie wachsen im Gazastreifen auf. Ihrer Umgebung wollen die Kinder entfliehen, Katalysator für den Ausbruch aus widrigen Verhältnissen soll die Musik sein. Mohammed (Qais Attalah) hat eine wunderschöne Stimme. Nour (Hiba Attalah) besitzt Organisationstalent, Ehrgeiz und Mut. Sie regt als künftige Gitarristin die Gründung einer Band an. »Wir werden in Kairo spielen«, sagt sie mehr als einmal, »und die Welt verändern.«
Abu-Assad schildert in seinem Film eine Erfolgsgeschichte. Er zeichnet die wahre Geschichte und Karriere von Mohammed Assaf nach, eines Palästinensers, der 2013 die Castingshow »Arab Idol« gewonnen hat. Der Regisseur nähert sich dem Thema ohne jede Sensationslust, ihn interessieren die Gefühle und die Motivation der Figuren, ihre kühnen Visionen und persönlichen Katastrophen.
Abu-Assad hat die Kinderfiguren mit Laiendarstellern besetzt. Dem Regisseur, der auch im Gazastreifen gedreht hat und dessen Tristesse ebenso abbildet wie landschaftliche Schönheit und Erhabenheit, kommt es auf Authentizität an. Hiba und Qais Attalah rufen Leichtigkeit und Lebensenergie scheinbar mühelos ab und beglaubigen emotionale Tiefe, wenn die Situation es erfordert. Der Film setzt 2005 ein und macht dann einen Zeitsprung ins Jahr 2012. Tawfeek Barhom verkörpert nun Mohammed, der mit Geschick, Glück und Chuzpe Hindernisse überwindet, bis er in der Arena von »Arab Idol« in Kairo landet. Und gewinnt.
Mohammed bezahlt einen Preis für den Erfolg. Der Film konzentriert sich auf seine Ängste, seine Panikattacken und sein Gefühl des Fremdbestimmtseins. Mohammed, genannt »die Rakete aus Gaza«, wird politischer Hoffnungsträger. Er inspiriere junge Palästinenser, heißt es. Das baut Druck auf, und der erfolgreiche Sänger erkennt: »Mein Leben gehört nicht mehr mir.«
Der Dokumentarfilm »Gaza Surf Club« (2016) des deutsch-ägyptischen Regieduos Philip Gnadt und Mickey Yamine spürt im Gazastreifen Sehnsüchten nach, die aus der Verzweiflung entstanden sind. »Wir haben keine Hoffnung«, sagt der 42-jährige Abu Jayab. »Wir können hier nicht weg«. Gaza ist ein Gefängnis, lautet die Botschaft. Freiheit genießen die Menschen nur im Wasser, genauer gesagt: auf dem Surfboard. Perfekte Wellen kontrastiert der Film mit Trümmerlandschaften. Der Strand wird zum Zufluchtsort, das Surfbrett zum Glückssymbol. »Mein Blut, meine Seele«, wie es einer pathetisch beschreibt.
Aus europäischer Perspektive betrachtet, sind es kleine Dinge, die hier die Menschen existenziell bewegen. Die Freiheit zu reisen zum Beispiel, der Sport, der Ehrgeiz, sich zu beweisen und seine Fähigkeiten auszuprobieren. Die Umgebung setzt den Hoffnungen Grenzen. Das Mädchen Sabah wird allmählich eine junge Frau, für sie ist Surfen nun »haram«, tabu. Ibrahim ist es vergönnt, nach Hawaii zu reisen. Ob er nach Gaza zurückkehrt, bleibt offen. Auch hier ist kein glückliches Ende programmiert.
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