Interview: Bruno Dumont über seinen neuen Film »France«
Bruno Dumont am Set von »France« (2021). © 3B Productions
Bruno Dumont über seinen neuen Film »France« und den Zustand unserer Welt im Spiegel der Medien. Interview: Thomas Abeltshauser
Auch wenn es seine wenig zimperlichen Filme auf den ersten Blick nicht unbedingt vermuten lassen, ist Bruno Dumont doch einer der großen Humanisten des französischen Autorenfilms, einer, der sich immer wieder mit den moralischen Ambivalenzen des Lebens auseinandersetzt. Bekannt und berüchtigt wurde der ehemalige Dozent für Philosophie Ende der Neunzigerjahre zunächst mit stilistisch strengen Sozialdramen wie »Das Leben Jesu« und »L'Humanité«, in denen er meist Laiendarsteller besetzte. Ab 2014 überraschte Dumont dann plötzlich mit verquerem Sinn für Humor und das Groteske, zunächst mit der morbiden Miniserie »Kindkind«, dann mit der Kostümfarce »Die feine Gesellschaft«, in der er eine grenzdebile Adelsfamilie im Jahr 1910 an den wohl hässlichsten Strand Nordfrankreichs schickt, wo die arme Bevölkerung dem Kannibalismus frönt. Nach zwei Musicals über das Leben der »Jeanne d'Arc« irritiert nun auch Dumonts jüngster Streich »France« über eine Starjournalistin in der Sinnkrise mit seiner widersprüchlichen Protagonistin und einer Mischung aus ätzender Mediensatire und überhöhtem Melodram. Mit dem 64-Jährigen hat Thomas Abeltshauser gesprochen.
Monsieur Dumont, Ihr neuer Film »France« ist als Mediensatire selbst in Ihrem sehr diversen Werk ungewöhnlich. Aus welcher Fragestellung oder Motivation ist die Idee dazu entstanden?
Zunächst war da der Wunsch von Léa Seydoux und mir, gemeinsam einen Film zu machen. Ich fand es interessant, mit ihrem Image als Filmstar zu spielen, und wollte es in die digitale Medienwelt transportieren. Ich glaube, dass es zwischen dem Kino und den modernen Medien gewisse Ähnlichkeiten gibt, was die Darstellung einer vermeintlichen Wirklichkeit angeht. Ich wollte eine Frau zeigen, die in dieser Medienwelt ein Star ist, ein Produkt dieser Welt und zugleich eine, die sich der Leere und Hohlheit dieser Welt bewusst wird.
Im Unterschied zum narrativen Kino, das um seine Rolle als Illusionsmaschine weiß, erheben bestimmte Formate im Fernsehen zumindest den Anspruch, Realität darzustellen. Bei Ihnen sind diese Medien vom Narzissmus und Zynismus ihrer Akteure geprägt. Wie nah ist diese Darstellung am realen Zustand in Frankreich?
Die Medien präsentieren uns Bilder. Und Bilder sind immer Fiktion. Man kann keine Bilder produzieren, die die Realität darstellen. Medien machen im Grunde nichts anderes als Kino, das ist meine Grundauffassung. Und das zeige ich nun wiederum in einem Film. Einem Film, der selbst melodramatisch und tragisch, komisch und parodistisch ist. Er stellt diese Welt überspitzt dar, ist aber nichtsdestotrotz ein Spiegel dieser Welt.
Sie verbinden mehrere, auch in sich widersprüchliche Ebenen, Stilmittel und Genrekonventionen. Wie haben Sie dabei den richtigen Tonfall gefunden?
Unser Geist hat den Drang, alles in Schubladen zu stecken, einzuteilen in Gut und Böse. Daran glaube ich grundsätzlich nicht. Ich bin näher an Victor Hugo. Wie er halte ich alles für vermischt und voneinander durchdrungen. In meinen Filmen gibt es keine klaren Fronten, es herrscht ein großes Durcheinander. Die Protagonistin in »France« ist zugleich gut und schlecht, wie wir alle. Mein Film heroisiert eine Antiheldin. Die Medien dagegen machen meist das genaue Gegenteil, sie simplifizieren und sind dabei unglaublich moralisch und urteilend, auch verurteilend. Aber die Welt ist sehr viel komplexer, so nehme ich sie wahr, und das macht meine Filme vielleicht anstrengend und intellektuell herausfordernd. Sie lassen sich nicht einfach kategorisieren und abhaken. Ich glaube aber umgekehrt, dass uns gerade diese modernen Medien unglücklich machen, weil sie die Grautöne negieren und ihre simple Einteilung in Gut und Böse falsch ist. In diesem Sinne ist »France« auch eher ein Film über unsere Gesellschaft und den Zustand unserer Welt als eine bloße Mediensatire.
Dabei verweilt die Kamera immer wieder ungewöhnlich lange auf dem Gesicht dieser ambivalenten Figur, beobachtet sie wiederholt in Großaufnahme bei Tränenausbrüchen. Da fragt man sich als Zuschauer unwillkürlich: Spielt France hier eine Rolle, oder drücken sich in diesen Momenten aufrichtige Emotionen aus?
Die Großaufnahmen entspringen dem Wunsch, diese Frau zu erforschen. Zugleich macht der Film aber auch deutlich, dass es sich nicht um eine konkrete Person handelt. France ist überzeichnet, sie ist kein realer Mensch oder einem Vorbild nachempfunden. In all ihrer Widersprüchlichkeit steht sie im Grunde für jeden von uns. Wir alle sind irritierend, komplex und widersprüchlich, mal sympathisch, mal abstoßend. In ihr kann sich das Publikum wiedererkennen, jeder von uns hat die Anlage in sich, großartig und ein Arschloch zu sein. France ist eine Funktion, die uns dieses Prinzip klarmacht.
Steht France, wie ihr Name andeutet, allegorisch für ein ganzes Land?
Mich interessiert die menschliche Natur, was uns alle ausmacht. Mit ihren Tränen ist sie selbst eine Transfiguration vieler Aspekte menschlichen Verhaltens. Sie ist mehr als nur ein Individuum, sie vereint all die Widersprüche Frankreichs in sich. Mir geht es dabei aber nicht darum, den Journalismus per se zu verteufeln oder zu fordern, dass ihm in der heute praktizierten Form ein Riegel vorgeschoben wird. France versucht ja gerade, in diesem Beruf eine Haltung zu finden. Sie ist keine Heilige, sie kriecht nicht zu Kreuze, aber sie tut letztlich das wenige in ihrem Rahmen Mögliche.
Würden Sie sie als zynisch beschreiben?
Man muss hier zwischen Mensch und Beruf unterscheiden. Ich glaube nicht, dass sie selbst zynisch ist. Aber die Profession, die sie ausübt, hat zynische Tendenzen. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den Anforderungen der Branche, die nach hohen Einschaltquoten und Profit strebt, und dem journalistischen Berufsethos, dem Streben nach Wahrheit. Vor allem in den audiovisuellen Medien geht es aber oft mehr um Oberflächenreize. Mit dem Siegeszug der digitalen Medien und sozialen Netzwerke verschwimmen für Journalist*innen immer mehr die Grenzen, sie müssen im Grunde ständig »auf Sendung« sein. France ist die Personifizierung der Art und Weise, wie dieser Beruf heute ausgeübt wird. Und sie ist eine Journalistin, die sich diesem System zunehmend entfremdet.
Es geht dabei auch um unsere Obsession mit Celebrities . . .
Früher waren es vor allem Leinwandidole, für die sich die Leute begeisterten. Heute werden selbst Moderatorinnen von Infosendungen zu Prominenten, über die man in der Klatschpresse liest. Wie bei manchen Filmstars gibt es auch bei ihnen eine gewisse Schizophrenie zwischen privater Person und Image. Und oft ist da auch ein starkes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Liebe. Wenn France zu ihrem Therapeuten sagt, dass sie anonym und unerkannt sein möchte, stimmt das natürlich nicht. Sie ist narzisstisch, sie braucht das Interesse der Öffentlichkeit.
Warum haben Sie entschieden, aus ihr keine Klatschreporterin, sondern eine politische Journalistin zu machen?
Weil mich diese Grauzone zwischen Medien und Politik interessiert hat. Es gibt eine Vermischung, eine Verbrüderung beider Sphären, bis hin zu Ehen zwischen Journalistinnen und Politikern. Es ist ein sehr kompromittiertes Milieu, obwohl es eine Gewaltenteilung geben sollte. Zugleich wollte ich eine Figur schaffen, die sich in ganz unterschiedlichen Welten bewegt, die im Studio mit Politikern debattiert, als Reporterin aus Krisengebieten berichtet und am nächsten Tag die Frau eines Serienmörders stundenlang zu Hause interviewt. Der Grund, warum Journalismus von vielen so schlecht angesehen und kritisiert wird, ist der Eindruck, dass der Blick auf Geschehnisse oft zynisch ist oder von anderen Interessen gesteuert als dem Informationsauftrag. Die Medien entwickeln eine Erzählung der Wirklichkeit, die oft mehr mit Unterhaltung und Zuspitzung zu tun hat. Und vor allem im Fernsehen sind die Journalisten allzu oft selbst im Mittelpunkt dieses Storytelling, machen sich zu Protagonisten der Geschichte.
Das Spiel mit Rollen findet auch auf sprachlicher Ebene statt . . .
Vor einer Kamera oder einem Mikrofon benutzen Menschen fast automatisch ein anderes Vokabular. Und oft wirken diese Konventionen unecht, gestellt. Warum gibt es so oft abgelesene Aussagen, nicht nur in Nachrichtensendungen und Livereportagen, sondern auch in Fernsehdebatten? All diese Fernsehformate funktionieren nach bestimmten Konventionen, die kaum hinterfragt werden, obwohl sie die öffentliche Meinung und politische Entscheidungen beeinflussen. Und wie wirkt sich das auf die Menschen aus, die in diesem Medium arbeiten und eine Sprache benutzen, die nicht ihre eigene ist? France stürzt es irgendwann in einen Gewissenskonflikt, sie kann nicht länger wie ein Roboter diese Standardsätze aufsagen.
Gleich zu Beginn gibt es eine bemerkenswerte Szene, in der France auf einer Pressekonferenz den französischen Staatspräsidenten befragt und scheinbar der reale Emmanuel Macron darauf antwortet . . .
Und ich werde nicht verraten, wie wir das gemacht haben. Die Mystifizierung ist schließlich Teil meines Berufs als Filmemacher. Aber anders als das Fernsehen mache ich keinen Hehl daraus, dass es Fiktion ist. Ich zeige in dieser Szene auch, was hinter den Kameras passiert; der Austausch von Blicken und Gesten zwischen France und ihrer Produzentin ist grotesk und vulgär. Ich habe das bewusst überzeichnet, um zu zeigen, dass sie in jedem Moment eine Rolle spielen, ob sie gerade auf Sendung sind oder nicht. Das Fernsehen ist wie Boulevardtheater, eine exzessive Simplifizierung der Realität.
Verstehen Sie Ihren Film als Provokation?
Ganz und gar nicht. Ich halte Provokation für sinnlos. Es ist eine Transfiguration, eine Darstellung forcierter Realität, alles ist überzeichnet und als solches klar erkennbar. Kein Journalist lebt in einem solch palastartigen Apartment wie France und ihre Familie, alles ist sehr bewusst Fake, und der Film macht in keiner Sekunde einen Hehl daraus. Es ist eine Repräsentation, als ob alles auf einer Bühne stattfindet. Dadurch wird das Vulgäre dieser Welt ebenso deutlich wie der gute Kern dieser Figur, die einen ehrenwerten Beruf ausübt und in ihren Grenzen versucht, sich in diesem Umfeld zu behaupten. Die Wirklichkeit wird inszeniert wie ein Fotoroman, alles ist sensationalistisch und ins Extrem gesteigert, als wären es Schlagzeilen einer Gossip-Website, hyperdramatisch, hypertragisch, hypervulgär.
Haben Sie keine Bedenken, dass gerade diese Drastik gewisse Zwischentöne überdeckt?
Auf die Wirkung des Films habe ich keinen Einfluss. Ich überlasse es jedem Zuschauer selbst, wir er ihn wahrnimmt. Nicht jedes Detail und jede Ebene werden gleich verstanden werden. Manchen werden die Allegorien und Metaphern etwas sagen, andere werden es vielleicht banal und flach finden. Kino ist ein Spiegel, und jeder sieht, was er durch eigene Erfahrungen darin erkennen kann und will. Ohne mich mit den Leuten von »Charlie Hebdo« vergleichen zu wollen – was mit deren Mohammed-Zeichnungen passierte, hat Ähnlichkeit. Man kann sie als platte Karikaturen missverstehen oder auf einer weiteren Ebene das satirische, subversive Potenzial daran erkennen. Und dieses differenzierte Sehen verkümmert in den digitalen Medien zunehmend, alles muss möglichst eindeutig sein.
Satiren erreichen aber oft lediglich Leute, die deren Haltung oder Intention sowieso längst zustimmen. Womöglich rennen Sie auch mit »France« längst offene Türen ein. Welche Reaktionen erwarten Sie sich auf den Film?
Ich hoffe vor allem, dass man sich in France wiedererkennt. Sie ist zunächst eine Frau, die in dem aufgeht, was sie beruflich tut. Zugleich macht sie eine moralische und intellektuelle Krise durch, die ihr bisheriges Handeln infrage stellt und ihr die Hohlheit ihres Umfelds bewusst macht. Das Ende des Films ist, ohne zu viel zu verraten, eine Erlösung, aber eine ohne Gott.
Wie meinen Sie das?
Ich bin nicht religiös, ich glaube an menschliche Vergebung und Gnade. Bei allem, was sie getan und durchgemacht hat, gibt es für sie eine Chance, ein neues Kapitel aufzuschlagen und weiterzuleben.
Aber es gibt aus Ihrer Sicht keine Möglichkeit, dieses System zu verlassen.
Es wäre falsch, sich aus allem zurückzuziehen, um mit den Abgründen der Welt nicht in Berührung zu kommen. Wir müssen uns bewusst werden, in welcher Welt wir leben und darin so gut es geht zurechtkommen. Eine Journalistin wie France kann erkennen, dass es in ihrer Branche verdorbene Aspekte gibt, und trotzdem ihren Job mit Haltung und Würde machen.
Ist also ein richtiges Leben im falschen möglich?
Ja, weil ich glaube, dass das Falsche richtig werden kann. Das Richtige ist nur das Falsche, das sich verändert hat.
Schauen Sie eigentlich selbst noch Fernsehnachrichten?
Natürlich. Wir müssen uns so gut es geht informieren und auf dem Laufenden halten, daran führt kein Weg vorbei. Rückzug ist auch keine Option.
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