Dominik Graf: Ein Grenzgänger zwischen Film und Fernsehen
Dominik Graf. © Martin Widenka/Unsplash.com, picture alliance/BREUEL-BILD
Werden wir nach Corona nur noch streamen? Der Regisseur Dominik Graf, ein Grenzgänger zwischen Film und Fernsehen, findet nicht, dass ein Medium das andere ablösen muss. Im Zoom-Gespräch mit Anke Sterneborg erklärt er seine Liebe zum Kino – auch als Zuschauer
Dominik Graf wurde 1952 als Sohn des Schauspielerpaars Robert Graf und Selma Urfer in München geboren. Mit über 50 Regiearbeiten – Kinofilme wie »Die Katze«, »Die Sieger«, »Der Felsen«, »Geliebte Schwestern«, Fernsehspiele, Krimiserien wie »Der Fahnder«, »Tatort«, »Im Angesicht des Verbrechens«, Dokumentarfilme – gehört er zu Deutschlands produktivsten und profiliertesten Filmemachern; außerdem schreibt er Drehbücher, Filmmusik, Texte über Film. Graf hält den Grimme-Preis-Rekord, ist Gründungsmitglied der Deutschen Filmakademie und Professor für Spielfilmregie in Köln. Sein neuer Film »Fabian« soll demnächst ins Kino kommen.
epd Film: Was ist Ihre erste Erinnerung ans Kino?
Dominik Graf: Das war »Dornröschen« von Disney. Vorher hatte ich schon einen der deutschen Märchenfilme aus den Fünfzigern gesehen, die ja wirklich extrem kindgerecht waren. Dagegen war »Dornröschen« dann doch ein ziemlicher Knaller. Ich weiß auch noch, wo das war, in München in einem Kino im Tal, mit meiner Großmutter, die hinterher auch etwas verschreckt war. Die Bilder, der finale Kampf zwischen dem Prinzen und der bösen Fee – für einen Sechsjährigen war das damals, Ende der Fünfziger, schon heftig. Auch nach Jahren fand ich diesen Film noch bahnbrechend, weil auch sein kantiger Zeichenstil radikal modern war. Das hat mich sehr beeindruckt. Trotzdem hat es erst einmal längere Zeit nicht zu einer großen Kinoliebe geführt. Sicher, ich habe Filme meines Vaters gesehen, sehr nette wie »Das schöne Abenteuer« von Kurt Hoffmann mit Lilo Pulver. Aber Musik und Literatur waren für mich dann in der frühen Pubertät wichtiger. Zu Hause wurde oft sehr kritisch über das deutsche Kino gesprochen. Das wurde eher als Neben- oder Unterkunst gesehen, die Liebe der Eltern galt der zeitgenössischen Literatur und dem Theater.
Wann kam es zu einer Art Kino-Initiation?
Ein paar erleuchtende Erlebnisse hatte ich mit 19 oder 20, da begriff ich, dass das Kino ein wirklich tiefgreifender Ort ist, der die Seele tief berühren kann. Das hatte ich eigentlich bis dahin so nur in der Musik erfahren und mit ganz wenigen Büchern.
Sie haben mal gesagt, dass die Tatsache, dass Ihre Eltern Schauspieler waren, am Anfang die Liebe zum Kino eher behindert hat. Warum?
Ende der fünfziger Jahre war das deutsche Kino halt schon etwas behäbig. Selbst als Kind, mit acht oder neun Jahren, hatte ich mitgekriegt, dass auch der Vater ab und zu in eher ein bisschen doofen Filmen spielte. Entsprechend gebremst war der Respekt gegenüber dem Film.
Darum haben Sie ja erst einmal Germanistik und Musikwissenschaft studiert . . .
Das war ein hilfloser und auch sinnloser Versuch, die brennendsten Privatinteressen auf der Uni zusammenzuführen. Das Musikwissenschaft-Seminar habe ich, ehrlich gesagt, nie gefunden. 1972 Abitur, 73 fing ich an, mich richtig für Film zu interessieren. 74 habe ich mich an der Filmhochschule beworben, vorher noch ein Praktikum in der Bavaria gemacht, als dritter Aufnahmeleiter bei der Serie »Härte 10«, mit internationalen Stars und auch deutschen wie Horst Janson und Wolfgang Kieling. Wenn man da auf dem Set jemanden fragte, ob er Cineast sei, dann reagierten die, als habe man sie was Unanständiges gefragt. Der Autorenfilm war bei den fest angestellten Konfektionsfilmarbeitern ein Gegner, eine Bedrohung, glaube ich. Aber diese pure Konzentration auf Professionalität fand ich damals auch interessant.
Wie wurde das Kino dann doch zum Beruf, zur Berufung?
Nach dem Internat wurde mein Interesse durch die in München gebliebenen Freunde geweckt, für die Kino ihr Ein und Alles war. Mit denen ging ich jeden Abend ins »Leopold«-Kino, ins »Cinecitta«, beinahe egal, ob was Spannendes lief oder nicht; auch mit Langeweile oder Ablehnung musste man sich auseinandersetzen. Das war auch die Zeit, in der wir immer häufiger, immer entschiedener in französische Filme gingen, vor allem die der mittleren bis späten Nouvelle Vague, Truffaut und Rohmer. Das hatte mit mir zu tun, das waren Konflikte, die ich kannte und nachvollziehen konnte, auch wenn ich sie noch nicht so erlebt hatte, wie sie da erzählt wurden. Wichtiger als die Plots war für mich schon damals die Filmsprache: Vier Stunden lange Dialoge im Wohnzimmer bei Jean Eustache, da war das Kino plötzlich nicht mehr so eine abgehobene Veranstaltung mit Zeichentrickfiguren oder Cowboys, die durchs Monument Valley reiten. Auf einmal hatte das eine intime Nähe. Plötzlich fand man die eigenen Empfindungen auf der Leinwand. Donnerwetter, dachte ich, offenbar kann man daraus auch Kino machen. Interessant! Das war der Moment, in dem aus den halb garen Berufsplänen, die man mit 19 oder 20 hat, ein zielgerichteter Entschluss entstand.
Auf die HFF zu kommen, war dann gar nicht so schwierig damals, oder?
Das hatte sicher auch mit den Eltern zu tun, durch den Vater, der bis zu seinem frühen Tod viel in der Bavaria gearbeitet hatte; der Chefproduzent und HFF-Präsident Helmut Jedele hatte ihn gut gekannt. Es gibt Fotos aus den Sechzigern, da schaue ich als kleiner Junge in derselben Filmhalle beim Drehen zu, in der dann »Härte 10« und später meine »Katze« gedreht wurden. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, heißt es dann immer, und das schien mir zunächst eher riskant. Folgt man da aus Ratlosigkeit, Desinteresse oder Faulheit nur den Spuren des Vaters oder der Mutter, die ja auch gespielt und später geschrieben hat? Statt einen eigenen Weg im Leben auszuprobieren? Diese Zweifel blieben lange. An der Filmhochschule habe ich dann mit so französelnden Kleindramen angefangen, mit netten, jungen oder mittelalten Leuten in edlen Wohnzimmern und mit sehr viel Dialog. Sonderlich gut gelungen ist mir das aber nicht. 1978 habe ich mit dem Abschlussfilm gleich den ersten Bayerischen Nachwuchs-Filmpreis gewonnen. Irgendwann viel später habe ich Eckhard Schmidt, der in der Jury saß, gefragt: »Wieso habt ihr meinen Film damals eigentlich ausgewählt?« Und er sagte recht ehrlich: »Es war halt grade kein anderer da.« Da war ich noch skeptisch, ob Regie wirklich der Beruf für mich ist.
Inzwischen hatte ich auch gespielt, zwei-, dreimal, auch relativ große Rollen in deutschen Filmen, und habe erlebt, was man als Schauspieler vor der Kamera zu erdulden hat. Ich fragte mich, wie und ob ich selbst die Schauspieler überhaupt dazu kriege, so zu spielen, wie ich es mir vorstelle. Damals wurde im deutschen Fernsehen und Kino ja auch noch ganz anders gesprochen, sehr viel bühnenartiger, und man hat sich sehr viel ausladender bewegt. Wie bringt man jemanden dazu, einfach mal normal ein Bier zu bestellen, ohne dass da Hamlet mittönt? Nach dem Bayerischen Filmpreis durfte ich gleich noch einen Spielfilm drehen, den ich aber noch misslungener fand. Schließlich hatte ich noch einmal Riesenglück, denn es kam aus der Bavaria das Angebot, eine Vorabendserie zu übernehmen, mit einem schwäbischen Kommissar, der immer im Keller hockt und alte Fälle löst. Das war die heimlich schon geliebte Konfektionsware, das hatte nur geringe Ambitionen und machte Spaß. Meine Filme wurden deutlich schneller, und das Timing stimmte halbwegs; auf einmal ging das alles ganz gut zusammen.
Weiter ging es dann mit der Polizeiserie »Der Fahnder«.
Ja, direkt nach dem Kellerkommissar. Im »Fahnder«, das waren hektische Straßenfilme, und da dachte ich das erste Mal, das könnte meine Berufung sein, auch mit dem Gefühl, dass das weit genug von zu Hause entfernt, keine Literatur mehr ist. Keine Hochkunst, sondern eigentlich ziemlich harte, bodenständige Arbeit, eben diese Professionalität, die mich faszinierte: viel lernen müssen und irgendwann viel können müssen. Lernen, die eigenen Fehler zu vermeiden.
So eine gewisse Poesie des Alltags schlägt da aber trotzdem durch. Waren das die Einflüsse der französischen Nouvelle Vague?
Reste vielleicht, gut möglich. Irgendwann stellte sich in den Polizeiserien so eine gewisse Leichtigkeit ein. Als Anfänger läuft man ja immer Gefahr, zu viel zu wollen. Das Schönste an den Polizeifilmen, neben der Spannung, ist für mich die Arbeit der Polizisten gewesen, der ganz einfache Alltag im Büro, der für jeden nachvollziehbar ist, mit diesen schönen Bürowerkzeugen, einem Locher, einem Kaffeeautomaten, mit auseinanderfallenden Akten. Immer wenn der Dialog schwerfällig zu werden droht, kann man durch nebensächliche Aktionen etwas Beiläufiges reinbringen. Das war für mich eine große Befreiung.
Wie sehen Sie selbst das Verhältnis von Fernsehen und Spielfilm in Ihrer Arbeit?
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat in den Achtzigern den Weg für eine andere Art von Kino bereitet. Es hat dem großen Autorenfilm finanziell auf die Sprünge geholfen und gleichzeitig den Nachwuchs befördert. Im Fernsehen konnte man gewissermaßen dieses kleine Kino machen, diese französischen Straßen- und Gangsterfilme, die man im deutschen Förderkino nie finanziert bekam. Ich hätte gern mal einen »Fahnder« fürs Kino gemacht, aber das war den Produzenten zu unscheinbar. Im Kino musste immer was ganz Großes passieren, immer wurde um jede Entscheidung ein Riesen-Brimborium gemacht. In Deutschland glauben die Leute immer noch, unterscheiden zu können, was fürs Kino taugt und, vor allem, was nicht. Damals gab es zwei, drei sehr schöne Schimanski-Fernsehfilme, mit Humor und Melancholie im Umgang der Polizisten auf der Straße und im Büro, das erinnerte ein bisschen an die französischen Polars der achtziger Jahre, in denen man die echten Straßen und Kneipen hört und riecht. Aber in dem Moment, in dem Schimanski ein Kinofilm werden musste, wurde dick aufgetragen, das durfte nicht mehr dreckig sein, das war dann Glamour-Rock im Muscle-Shirt. Darum hatte ich das Gefühl, im Fernsehen meine Vorstellung vom kleinen Kino besser und schneller realisieren zu können.
Im Unterschied zu vielen anderen Fernsehregisseuren sah das bei Ihnen aber auch nie so eng und klein aus.
Das war die Absicht. Aber es gab schon auch ein paar Geistesgenossen in der Zeit, Carl Schenkel oder Roland Klick im Kino – und das epochale Vorbild Klaus Lemke natürlich, der auch fürs Fernsehen verkappte Kinofilme drehte. »Rocker« war ja 1972 schon ein Phänomen gewesen; das war genauso eine unverfälschte Realität, wie sie uns auch vorschwebte.
Schon mit den Fernsehkriminalfilmen haben Sie im Grunde auch Ihre Heimat, Deutschland, erkundet, was dann in den Dokumentationen vertieft wurde, oder? »Das Wispern im Berg der Dinge« handelte von Ihrem Vater Robert Graf.
Das war für die Serie »Denk ich an Deutschland«, für die auch Doris Dörrie zuvor schon gedreht hatte. Ich wollte etwas über das Kino machen, über das Erzählen in Deutschland. Und dann kam Michael Althen und meinte: »Erzähl doch von deinem Vater.« Aber in den Neunzigern, nach dem Zusammenbruch des Ostens, hatten auf einmal viele irgendwas über ihre Eltern gemacht, und ich hatte keine Lust, meine Biografie vorzuschieben, von der Lebenstragödie meines Vaters zu profitieren. Michael hat dann eine fantastische Einleitung geschrieben, mit einem sehr großen Verständnis für die Figur meines Vaters – als Schauspieler, mit seinem Nachkriegsschicksal, mit der schweren Verwundung, die er vor der Kamera immer versteckt hatte. Er machte ihn zum charismatischen Zentrum einer Erkundung, die letzten Endes über meinen Vater hinausging, von der ganzen Männergeneration der im Krieg gewesenen Jungen handelte, die verheizt worden waren, die, als sie zurückkamen, wenn sie überhaupt zurückkamen, »Draußen vor der Tür« gestanden hatten, dieses einsame Männerbild der Nachkriegszeit. Mit diesem eher essayistischen Tonfall konnte ich etwas anfangen.
Dieser Aspekt der Erkundung des eigenen Landes ist aber schon Teil Ihres ganzen Werkes, oder?
Ich hatte mir immer geschworen, dass ich nie einen Film mit Naziuniformen machen werde. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dazu etwas beitragen zu können. Und dann kamen diese Dokumentarfilme, vor allem »Das Wispern im Berg der Dinge« und 2011 »Lawinen der Erinnerung« über den Autor und Regisseur Oliver Storz, der einen ungeheuer originellen Blick auf die letzten Kriegstage hatte. Das war wieder so eine Vaterfigur, im Grunde, als säße ich noch mal einem Vertreter dieser Generation gegenüber. Plötzlich hatte ich das Gefühl, das ist doch ein Thema, bei dem es nebenbei auch um die Frage geht, warum die deutschen Filme so sind, wie sie sind. Das hat alles etwas mit der deutschen Geschichte zu tun, mit dem Zweiten Weltkrieg und den Vätern, die schwer kaputt zurückkamen. Auch »Verfluchte Liebe deutscher Film« ist im Grunde eine Bestandsaufnahme: wie jede neue Generation auf die vorherige reagiert hat und gleichzeitig die Väter und Mütter quasi doch in sich birgt.
Und dann gab es noch die große Frage, wie man diese öden deutschen Stadtlandschaften, um die man in deutschen Fernsehkrimis nicht herumkommt, eben doch filmisch aussehen lassen könnte . . .
Auch das hängt zusammen. Den Blick, die Wahl der Perspektive, das hat mir alles der Kameramann Helge Weindler, mit dem ich beim »Fahnder« angefangen habe, beigebracht. Man musste ja akzeptieren, dass Westdeutschland so unsäglich hässlich war, dass man es im Grunde gar nicht fotografieren konnte. Aber indem wir ein Minisegment am Ende einer Straße mit einer elend langen Brennweite aufgenommen haben, blieb fast alles andere drumherum Gott sei Dank unscharf. Es war der amerikanophile Stil der Achtziger. West Germany sozusagen. Als die Wende kam, musste man sich davon irgendwann auch wieder lösen. Als ich 1992 mit Götz George in Leipzig drehte, war ich stark beeindruckt, denn dort sah alles nicht mehr so spießig und doof aus wie unser Westdeutschland – das war eine verzweifelt selbstbewusste germanische Ruinenlandschaft, herzergreifend echt und wahr. Und die Berliner Schule fand Ende der neunziger Jahre wieder eine ganz andere filmische Ästhetik für deutsche Topographie: den desaströsen Ist-Zustand dokumentieren und die Architektur quasi als eine Gleichung nehmen für die zerstörte deutsche Kommunikation in ihren Filmen. Eine Wende – nach der Wende.
Die Regisseure der Berliner Schule haben sich auf diese Kargheit der deutschen Stadtlandschaften frontal eingelassen, was dann dazu führte, dass es auch wieder schön aussah . . .
Jahrzehntelang haben wir die Schilder, die überall in den Straßen stehen, rausgerissen. Egal wo man die Kamera aufbaute, immer sah es aus wie auf einem Verkehrsübungsgelände. Unfassbar. Aber irgendwann – und vor allem als ich Filme im Osten drehte – habe ich akzeptiert: Das ist nun mal das Land, in dem ich lebe.
Durch die Corona-Krise ist die Existenz der Kinos weltweit gefährdet. 2020 waren die Kinos rund die Hälfte des Jahres geschlossen. Was ist denn der letzte große, tolle Film, den Sie im Kino gesehen haben?
Ich muss zugeben, dass ich schon vor Corona nicht mehr so oft ins Kino gegangen bin wie früher, was vor allem eine Frage der mangelnden Zeit ist. Aber das Kino ist für mich immer noch ein Ort, den ich tief verehre, liebe. Ein Sehnsuchtsort. Ein Film, in den ich mit unglaublicher Spannung gegangen bin, war »Blade Runner 2049«. Ansonsten gehe ich vor allem mit meiner achtzehnjährigen Tochter ins Kino, und die ist für bestimmte Dinge nun mal nicht zu haben. Die muss ich mir dann auf DVD holen.
Scheinbar gibt es in Deutschland viele Menschen, die das Kino angesichts der Streamingdienste für eine ausgediente Form des Medienkonsums halten. Brauchen Sie das Kino noch?
Unbedingt! Wir alle brauchen es, weil es ein Platz außerhalb der überall präsenten Normen und Zwänge der Gesellschaft ist. In der digitalen Gegenwart droht die Gesellschaft auseinanderzubrechen, diskutiert wird nicht mehr, sondern gleich gebrüllt und zugeschlagen. Es werden nur noch Positionen eingenommen und dann bis zum Umfallen verteidigt. Als ich in den Siebzigern und Achtzigern angefangen habe, das Kino zu lieben, war das noch ein rechtsfreier Ort, in dem niemand den Zeigefinger hob und anständiges Benehmen forderte. Schon gar nicht auf der Leinwand. Alles war da möglich, es war ein Diskurs über Leben, Politik, Liebe. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich immer mal wieder für zwei, drei Stunden völlig von der Masse zu entkoppeln, wobei das, was man dann dort sieht, vor allem auch im noch existierenden weltweiten Genrekino, schön illusionslose Rückschlüsse auf die Gesellschaft, in der wir leben, zulässt. Das Kino ist ein Raum von einer solch unfassbaren Notwendigkeit, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, zu denken, es könne überflüssig oder unzeitgemäß sein. Bei allem, was als unzeitgemäß bezeichnet wird, kann man ja nur davon ausgehen, dass es gerade darum besonders dringend erhalten werden muss. Letztlich ist das Kino doch vor allem auch ein therapeutischer Raum, in dessen Dunkelheit man so allerlei machen kann, klar, die Schwärze ist sozusagen die Voraussetzung. Aber das Wesentliche ist, dass man auf der Leinwand Dinge sieht und hört, die man sich vorher nie hätte träumen lassen. In meiner Kinozeit waren das Liebesfilme von Nicolas Roeg oder blutige Happenings von Peckinpah oder von den wahnsinnigen Italienern der siebziger Jahre, Filme, die einen wirklich in eine Perspektive zerrten, von der man zuvor keine Ahnung hatte. Und dann ist das Kino ein Raum, in dem man älter wird und leben lernt und erwachsen wird! Mehr, als man es vom Leben selbst lernt.
Streng genommen wäre das auch im Wohnzimmer möglich.
Nein, das ist eben nicht möglich, weil das Schreckliche am Wohnzimmer ist, dass man dort den Filmen jederzeit entkommen kann, so wie ich jetzt hier unsere Zoom-Verbindung mit einem Klick beenden könnte. Dann ist der Film weg, und ich kann mich mit Dingen befassen, die von blödsinnigster Alltäglichkeit sind. Aus diesem Grund werden ja heute die Serien so gemacht, dass man nie den Zusammenhang verliert, nie das Gefühl bekommt, dass ein Abbruch irgendwie tragisch wäre. Diese Beliebigkeit des möglichen Einstiegs und Ausstiegs bei gleichzeitig permanentem, fast bürokratisch eingehaltenem Spannungsaufbau bis zum nächsten Cliffhanger – das zeugt zumeist von erzählerischer Armut. Es heißt immer, Serien seien moderne Romane, aber in Wirklichkeit haben sie eine ganz kleinkarierte Erzählstruktur. Ich habe keinen Respekt vor dieser Formatierung, zumindest nicht in der amerikanischen Variante, die alle nachahmen. Die Deutschen haben vor etlichen Jahrzehnten im Fernsehen Mehrteiler gemacht, die echte Romane waren. »Am grünen Strand der Spree« von Fritz Umgelter beispielsweise.
Was ist das Letzte, das Sie auf Netflix geschaut haben?
Ich habe kein Netflix. Ich schaue mir natürlich Serien an, aber ehrlich gesagt auf DVD, denn ich will auch wissen, was ich gesehen habe, und sie nicht nur wie eine Karawane an mir vorbei ins Nichts ziehen lassen. Ich möchte, dass sie in meinem Zimmer im Regal stehen, so dass ich weiß: Ah, stimmt, das habe ich ja auch schon mal gesehen. Ich möchte Filme nicht nur sehen, sondern auch kaufen, mit nach Hause nehmen, um sie immer wieder nachprüfen zu können. Vielleicht verändern sie sich ja von Sicht zu Sicht. Weil man sich selbst verändert natürlich.
Gerade hat Warner verkündet, dass im nächsten Jahr sämtliche Filme des Studios parallel zu einem etwaigen Kinostart als Video on Demand gezeigt werden sollen – eine bittere Ansage für die Kinos, die seit Jahren um längere, exklusive Auswertungsfenster kämpfen. Besiegelt die Corona-Krise das Ende der Kinos?
Ich habe nie verstanden, warum ein Medium das andere ablösen muss. Ich habe immer sämtliche Darbietungsformen des optischen Erzählmediums genutzt, tue ich heute noch. Vielleicht hat die aktuelle Entwicklung auch damit zu tun, dass die Serie zum allein seligmachenden erzählerischen Medium ausgerufen wurde. Da heißt es dann, Netflix mache das eigentliche Kino, während das klassische Kino alt und krank sei. Für eine ganze Generation war das Kino plötzlich komplett out. Möglicherweise haben die Filme insgesamt nachgelassen. Wann wird man heute noch so tief berührt wie damals von Godard, Truffaut, Resnais …?
Liegt das nicht einfach daran, dass wir schon so viel gesehen haben?
Wir haben viel gesehen, stimmt. Aber nehmen wir mal den Liebes- oder sexuellen Diskurs – der ist ja fast vollkommen aus dem Kino verschwunden. Dafür seien heute die Pornoseiten zuständig, heißt es. Was natürlich Quatsch ist, weil das Themen sind, derer sich Autoren, Regisseure und Schauspieler bemächtigen müssen, weil sie sie nicht nur fürs Publikum, sondern auch für sich selbst deuten müssen. Um das eigene Leben zu verstehen. Die Pornoplattform ist nur eine Bedürfnisanstalt. Das Kino kann dazu Überlegungen anstellen, Theorien, die wie die bekannten 70er-Liebestheorien schnell verblassen mögen. Aber ein in solche Untiefen vorstoßender Film wie »Bad Timing« von Roeg – der hat mich damals komplett aus dem Sattel gehauen und tut es heute noch. In der Radikalität des Kinos liegt eine Schönheit, die für immer fehlen würde.
Mit seinen Eigenproduktionen ist Netflix zu einem der letzten Häfen für kompromisslose und kostspielige Filmabenteuer wie »Roma«, »The Irishman« oder »Mank« geworden. Nur hier bekommen tolle Regisseure wie David Fincher noch die Freiheit, ihre Filme so zu machen, wie sie wollen, auch in Schwarz-Weiß.
Auf »Mank« bin ich gespannt, aber manchmal habe ich auch den Eindruck, dass man den Filmen ansieht, warum sie zwanzig Jahre lang nicht finanziert wurden. Und die verjüngten Großschauspieler in »The Irishman« fand ich leider lächerlich; Pacino, Pesci, De Niro sahen aus wie Hobbits nach einer Falten-OP. Ich weiß nicht, was Marty da geritten hat!
Und was ist, wenn die Corona-Krise überstanden ist und nur noch 15 Prozent der Kinos überlebt haben?
Schon als das im März losging, war die Kernfrage doch, ob wir – die Filmbranche, auch die Fernsehbranche – systemrelevant sind. Die Antwort habe ich bekommen, als ich in dieser Zeit einen nachzuholenden »Tatort«-Drehtag drehen konnte, der problemlos finanziert und durchgezogen wurde, fast so, als würde von ganz oben der Weg dafür freigemacht. Da weiß man nun: Der »Tatort« ist systemrelevant. Aber die Kinos? Die Filme? Insbesondere da, wo es um etwas anspruchsvollere Kunst geht? Das Kino ist keine notwendige Wirtschaftsgröße mehr. Es wird stark subventioniert, aber es ist immer noch zu wenig, um richtig große, publikumsattraktive Filme zu machen, vergleichbar mit den Amerikanern. Und wenn dann eine Katastrophe eintritt wie Corona, heißt es eben: Wir haben jetzt größere Probleme, um die wir uns kümmern müssen. Kunst und Kultur –
und Kino ist jetzt seit Jahrzehnten schon nur noch Kunst und fast kein Kommerz mehr – sind für die Politiker nur ein kleines Extra, ein Bonus.
Könnten Sie sich als Regisseur damit arrangieren, nur noch Filme für den Bildschirm zu machen, in welcher Version auch immer?
Ich habe jetzt neben den Fernsehfilmen anderthalb Jahre an einer Erich-Kästner-Verfilmung, dem Kinofilm »Fabian«, gearbeitet, und in dieser Arbeit, mit den vielen Schnittversionen, all den Diskussionen und einer komplizierten Mischung ist mir das Kino an sich wieder sehr nahegekommen. Ich hatte wirklich großen Spaß, auch ohne viel Budget. Im Kino gibt es ein Gefühl von Freiheit, und deshalb ist es für mich immer das größere Experimentierfeld geblieben. Die letzten drei großen Kinofilme, die ich gemacht habe, »Der Felsen«, »Geliebte Schwestern« und nun »Fabian«, das waren riesige Spielplätze für mich.
Aber was, wenn die jetzt nicht mehr im Kino laufen könnten?
Dann ist es mir einfach wichtiger, dass es sie gibt, dass ich sie machen konnte – und sie so machen konnte, wie ich wollte, auch ohne wahnsinnig viel Geld, aber mit einer Ausdauer, auch der Produzenten an meiner Seite, und ohne Formatierung. Eine Szene dauert so lange, wie man es für richtig hält. Jeder dieser drei Stoffe war für mich etwas vollkommen Neues, wo ich mich wie ein Anfänger jeden Drehtag gefragt habe, ob ich das denn irgendwie vielleicht so hinkriege, wie ich es mir vorgestellt habe. Im Fernsehen sind doch alle Experimentierfelder weggebrochen, die kleinen Fernsehspiele, die literarischen Filmerzählungen aus dem Bayerischen Rundfunk, all diese Labore, die es früher noch gab. Wenn man heute etwas filmen will, das vielleicht niemand anders vorher so gefilmt hat, dann muss man immer noch ins Kino. Ich glaube, dass es Menschen gibt, die darauf warten.
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