Deutsche Gangsterfilme

Hitzezonen des Verbrechens
»Verbrannte Erde« (2024). © Piffl Medien

»Verbrannte Erde« (2024). © Piffl Medien

Gangster im deutschen Film? Treten eher selten und dann in Wellen auf. Mit Thomas Arslans »Verbrannte Erde« und Jan Bonnys »Der Panther« sind gerade zwei Produktionen entstanden, die eine solche Hochphase markieren. Kein Zufall, meint unser Gastautor Christoph Hochhäusler

Der deutsche Kriminalfilm ist heute synonym mit Fernsehen und sicher nicht zufällig obrigkeitlich in seiner Struktur. Am Ende eines Fernsehabends muss die Ordnung wiederhergestellt werden, und zwar von Organen des Staates. Dieses Land hat besonders großen Bedarf an aufgeräumten Verhältnissen, scheint es: 2004 gehörte jede fünfte fiktionale Sendeminute einem Krimi. 2022 machten Krimis 48 Prozent aller fiktionalen Programme im Fernsehen aus.

Dieses hypertrophe Wachstum hat sicher mit den Vorteilen einer Dramaturgie der Ermittlung zu tun: Sie ist einfach, robust, seriell und kann jedes beliebige Milieu oder Problem durchqueren. So kann man allerhand Aktualitäten unterbringen. Ein weitergehender Zusammenhang muss nicht entwickelt werden, auch bleiben die ermittelnden Figuren mehr oder weniger unberührt von ihren Fällen. Und weil sie kein Gedächtnis haben für die zurückliegenden Verbrechen, ist auch dem Zuschauer Vergesslichkeit erlaubt. 

Auch gesellschaftspsychologisch scheint es passend für die Nachkriegsgenerationen, dass das Böse immer schon geschehen ist und unsere Polizei-Stellvertreter, begnadigt von der späten Geburt, nur aufklären können . . . Wobei die Krimiflut auf eine Sisyphusarbeit hindeutet. Am nächsten Abend, auf dem nächsten Kanal oder Stream wartet schon die nächste Leiche.

Die andere Seite der Münze ist dagegen weniger ausgeprägt. Verbrecher haben kaum Profil im deutschen Film, eher sind sie vielsagende Ausnahmen, die sich nur gelegentlich (und überwiegend im Kino) zeigen. Versucht man sich ein Bild zu machen von der Rolle des Gangsterfilms im größeren Kontext der deutschen Filmgeschichte, fallen bestimmte Knotenpunkte auf. 

In den 20ern und Anfang der 30er Jahre haben die Ganoven ihren ersten großen Auftritt, in Szenarien, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben und bis heute fortwirken. Fritz Langs Mabuse-Filme (»Dr. Mabuse, der Spieler«; »Das Testament des Dr. Mabuse«) prägen den Typus des maskierten, manipulativen Superschurken. »M – Eine Stadt sucht einen Mörder«, ebenfalls von Lang, und G. W. Pabsts »3-Groschen-Oper« tauchen mit Verve in den urbanen Untergrund. Mit »Voruntersuchung« von Robert Siodmak entsteht 1931 übrigens auch das Musterbeispiel eines Krimis; der Film erzählt von einem Studenten, der des Mordes an einer Prostituierten verdächtigt wird. 

Der NS-Staat unterbricht diese Entwicklung, vertreibt und entrechtet die wichtigsten Filmkünstler des Weimarer Kinos. Deutsche und österreichische Exilanten hatten bekanntermaßen entscheidenden Anteil am Gangsterfilm in Hollywood und dem, was in Frankreich später Film noir getauft wurde. Zu nennen wären Fritz Lang, Otto Preminger, Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Max Ophüls, Billy Wilder und andere mehr. Auch der »Prototyp« des modernen Gangsterfilms stammt von einem Wiener: Josef von Sternbergs »Underworld« aus dem Jahr 1927.

Im deutschen Nachkriegskino bleibt das Thema unterbelichtet. Zwar entstehen nach Fritz Langs schönem Abschiedsfilm »Die 1000 Augen des Dr. Mabuse« (1960) diverse Mabuse-Derivate, aber erst Ende der 60er, Anfang der 1970er Jahre kommt es wieder zu einer interessanten Zusammenballung von Filmen, die sich für Verbrecher interessieren. Volker Schlöndorff macht 1967 den Anfang mit seinem zweiten Spielfilm »Mord und Totschlag«, der vom Versuch einer jungen Frau handelt, die Leiche eines übergriffigen Ex verschwinden zu lassen, und dem Neuen Deutschen Film Farbe und amerikanische Genrevibes injiziert. Es folgen »Zuckerbrot und Peitsche« von Marran Gosov, die Fassbinder-Filme »Götter der Pest« und »Liebe ist kälter als der Tod«, Roland Klicks »Deadlock« und »Supermarkt«, Reinhard Hauffs Porträt des historischen Räubers »Mathias Kneißl«, »Rocker« und »Paul« von Klaus Lemke, »Blutiger Freitag« von Rolf Olsen, »Die Zärtlichkeit der Wölfe«, Ulli Lommels Film um den Serienmörder Fritz Haarmann, »Zahltag« von Hans Noever. 

»Der amerikanische Freund« von Wim Wenders aus dem Jahr 1977 kann als ­verspäteter Schlussakkord dieser Serie gelten, in der ganz unterschiedliche Akteure des deutschen Kinos auf die Zeichen der Zeit – und natürlich auch auf französische, italienische und amerikanische Einflüsse – reagiert haben.

»Im Schatten« (2010). © Peripher Filmverleih

Danach tauchen die Gangster wieder für längere Zeit ab – Dominik Grafs fulminanter »Die Katze« (1987) gehört zu den großen Solitären der Zwischenzeit – bevor in Hamburg in den 1990er Jahren Lars Becker (»Schattenboxer«, »Bunte Hunde«) und Fatih Akin (»Kurz und schmerzlos«) neues Leben in das Genre hauchen. In relativ schneller Folge entstanden im neuen Jahrtausend dann »Chiko«, inszeniert von Özgür Yıldırım und produziert von Fatih Akin, »Der Räuber« von Benjamin Heisenberg, »Im Schatten« von Thomas Arslan, »Harms« von Nikolai Müllerschön und »Nur Gott kann mich richten«, wiederum von Özgür Yıldırım; in jüngster Zeit kamen »Rheingold« (Fatih Akin), »The Woddafucka Thing« (Gianluca Vallero) und »Schock« (Daniel Siegel & Denis Moschitto), außerdem ganz aktuell »Der Panther« von Jan Bonny und »Verbrannte Erde«, Thomas Arslans Fortsetzung von »Im Schatten«, hinzu. Das ist in Summe beinahe eine »Gangsterdämmerung«, auch wenn die genannten Titel natürlich denkbar verschieden sind und im Gesamtzusammenhang aller produzierten Filme nur eine winzige Fraktion bilden.

Es ist nicht gesagt, dass sich die Gangster im deutschen Kino nun einen festen Platz erobert haben, aber vielleicht kann man – auch angesichts der Serienarbeiten von Marvin Kren (»4 Blocks«, »Crooks«), Christian ­Alvart (»Dogs of Berlin«) und Max Erlenwein (»Skylines«) – von einem neuen Kulminationspunkt sprechen, an dem (post-)migrantische Stimmen übrigens einen wichtigen Anteil haben. 

Die Frage wäre, warum diese Filme gerade jetzt entstehen und was die Welle der 70er zum Beispiel mit jener der Gegenwart verbindet. Ohne Zweifel reagiert der Gangsterfilm seismographisch auf gesellschaftliche Erschütterungen, aber auf welche? In der Rückschau scheint es offensichtlich, dass die Filme der 60er und 70er die damalige Explosion politischer Gewalt spiegeln, vom Vietnamkrieg bis zur RAF. Der Terrorist Andreas Baader hat sich als Gangster inszeniert; seine Schwäche für entsprechende Medienbilder ist gut belegt. Holger Meins hat Film studiert. Fassbinders Antwort: »Ich werfe keine Bomben, ich mache Filme.«

Und es ist sicher kein Zufall, dass sich das deutsche Kino just zu einem Zeitpunkt wieder für Gangster interessiert, da die »regelbasierte Ordnung« zur Disposition steht und die Gewalt an diversen geopolitischen Nahtstellen eskaliert. Die Dekade prägende Politiker wie Putin, Trump, Erdoğan oder Orbán werden nicht umsonst immer wieder in die Nähe von Gangstern gerückt. Womöglich spielt aber auch eine Rolle, dass die Zukunft von so vielen Krisen verschattet scheint, dass sie zunehmend als Feind der Freiheit wahrgenommen wird.

Denn auch im Gangsterfilm geht es im Kern um die Zukunft als Feind, um die Unvereinbarkeit von Freiheit und Vernunft, also um Umstände, die einen Menschen zur »Notwehr« gegen gesellschaftliche Normen zwingen. Mindestens in zweifacher Hinsicht agieren die Gangster des Kinos als unser utopischer Spiegel: indem sie sich nehmen, was sie wollen. Und indem sie Gewalt nicht fürchten. Anders als wir ertragen Gangster ihr Schicksal nicht, sondern fordern es heraus und gehen ihm entgegen. Im Scheitern zeigen sie, woraus sie gemacht sind. 

»Der Räuber« (2010). © Zorro Filmverleih

Und weil Gangster Verfemte, Verletzte, Geschlagene sind – die sich wehren müssen, um ihre Ehre zu verteidigen – erlauben wir uns, ihre Überschreitungen als eine Art metaphorische Ausnahme zu sehen. Sie tun es für uns, ganz im Gegensatz zu den echten Kriminellen natürlich. Es geht um einen Widerstand der Haltung, nicht der Wirkung. Mehr noch: Nur in der »unmöglichen« Tat, einem Akt des Widerstands ohne praktischen Nutzen, lässt sich jener höchste Grad der Ehre erringen, der imstande ist, unsere bürgerlichen Kompromisse zu erhellen. 

Jean-Pierre Melville nannte den Gangsterfilm einmal eine »Form der modernen Tragödie« – denn in den ritualisierten Formen des Genres geht es um die letzten Dinge. Genau das ist so reizvoll an den Filmen, neben dem Spaß an den Formen und Figuren: wie direkt sie vom »Schicksal« sprechen können, weil die Realismen des Gegenwartskinos nicht im Weg sind. 

Auf der diesjährigen Berlinale gab es die Gelegenheit, zwei faszinierend gegensätzliche Spielarten des deutschen Gangsterfilms zusammen zu sehen und zu denken. Im Panorama waren sowohl Thomas Arslans meisterliche Fortschreibung der mit »Im Schatten« begonnenen Trojan-Figur als auch Jan Bonnys wilder Verité-Gangsterfilm »Der Panther« als Teil der Anthologie-Serie »ZEIT Verbrechen« programmiert. 

Letzterer ist das rare Beispiel einer echten Dreistigkeit im deutschen Film. Bonny und die Titelfigur Johnny – gespielt von Lars Eidinger, den ich nie besser gesehen habe – scheinen sich gegenseitig anzustacheln, sind Sparringspartner in dieser erschreckenden und schön riskanten Schlachtplatte, die sich an einem wahren Fall entzündet hat. Johnny ist ein Möchtegern-»Panther«, der gerade deshalb haarsträubend gefährlich wird, weil er sich und die Situationen, in die er sich begibt, falsch einschätzt. Auch er ist ein Mann, der sich die Zukunft zum Feind gemacht hat. 

Solche »unentschuldbaren« Charaktere, die ihr Umfeld – und uns – verlegen machen und zum Bekenntnis zwingen, gespielt von Schauspielern, die sich nicht selbst richten, die nicht dauernd Sorry sagen und in Richtung Publikum blinzeln, sind in der deutschen Kino- und Fernsehbürokratie quasi nicht vorgesehen; umso schöner, dass der Film in der kurzen Morgenluft der Streaming Wars entstehen konnte und jetzt die Hand aus dem frischen Grab von Paramount+ hervorstreckt (ein Kinostart sei unwahrscheinlich, sagt man mir, und auch andere Auswertungsaussichten seien »nebulös« – was, falls es dabei bleibt, äußerst schade wäre).

Bei Arslan gibt es ein Komplementärprogramm, in jeder Hinsicht: visuell, in der Figurenkonzeption, der Erzählweise. Kein Gramm Fett – die Ökonomie dieser Genre-Erzählung ist beinahe schmerzhaft, was zu den verengten Spielräumen der Hauptfigur passt, vierzehn Jahre nach dem ersten Auftauchen in Arslans »Im Schatten«. Anders als Johnny ist Trojan – den Mišel Matičević minimalistisch und dabei wunderbar präsent spielt – nicht nur auf Kontrolle aus, er beurteilt seine Lage auch ziemlich realistisch. Aber obwohl er sich mit jeder Faser zum Instrument seiner Rationalität macht, kann er – wie Johnny – nur wenig mehr als seine Haut retten. 

Gleichzeitig hat die Effizienz des Films nichts mit dem gedankenfaulen Primat des Erzählens zu tun, wie wir es aus vielen Serien kennen, vielmehr zeigt sich darin das Interesse für Handlungen, die die Haltung der Figuren auf den Punkt bringen. Gelegentlich trägt das Züge eines Bresson'schen Gestenspiels, entleert und modellhaft, dann wieder gibt der Film sich ganz dem Spaß am Genre hin. Ein Glücksfall. 

Lohnend auch, die Schauplätze der beiden Filme zu vergleichen. Bei Bonny der alte Westen, Leverkusen, das hier definitiv noch Vizekusen ist, keine Stadt der Gewinner. Gesichtslose Einkaufsmeilen, aufgegebene Geschäfte, viel Fliesenboden, der sagt: Mit Schweinereien ist jederzeit zu rechnen. Bei Arslan dagegen ein maskenhaft entstelltes Investoren-Berlin, viele Szenen spielen in den anonymen Zwischenräumen der Investorenwüste des Friedrichshainer Spreeufers. Unwirtlich ist es in beiden Filmen, aber während sich Johnny in Leverkusen hysterisch aus der Provinz zu träumen versucht, lässt der (Kapital-)Druck in Berlin kaum mehr Platz zum Atmen. 

Es sind zwei herausragende Beispiele einer Auseinandersetzung mit Gegenwart, Gangsterfilme als Chiffren einer brutalisierten Zeit, von Filmemachern, die die Gewalt unserer Verhältnisse explizit machen. Denn das Einzige, was womöglich schlimmer ist als Gewalt, ist, sie zu unterdrücken, ohne die Kräfte wirklich auszugleichen. Ein großer Teil der »Friedlichkeit« unseres gesellschaftlichen Miteinanders scheint heute so beschaffen. Und bis zu einem gewissen Grad »schön«, des Schrecklichen Anfang, ist es deshalb, wenn sich die Gewaltverhältnisse, die ohne Frage herrschen, zeigen. Ein guter Gangsterfilm agiert nur die Gewalt aus, die als Potenzial bereits vorhanden ist – und stellt sie damit unserer Analyse anheim. Und zielt nicht jedes Differenzieren und also Erzählen darauf ab, das Kommen und Gehen von Gewalt zu verstehen? 

Christoph Hochhäusler

Regisseur, Autor und Filmpublizist, wird mit »Milchwald«, »Falscher Bekenner« und »Unter dir die Stadt« der formstrengen Berliner Schule zugerechnet, lässt seine Arbeiten aber gern Richtung Genre oszillieren. Zuletzt hat er den Thriller »Bis ans Ende der Nacht« ins Kino gebracht. Sein neuer Film, zugleich sein französischsprachiges Debüt, trägt den Titel »La mort viendra« (Der Tod wird kommen); es ist, Zufall oder nicht, ein Gangsterfilm und wird in der zweiten Hälfte 2024 Festivalpremiere feiern. Die Geschichte dreht sich um eine Killerin (Sophie Verbeeck), die nach Brüssel kommt, um im Auftrag eines legendären Gangsters (Louis-Do de Lencquesaing) den Tod eines Kuriers zu rächen. Schnell gerät sie in das Dickicht einer Intrige, in der sie selbst zur Gejagten wird.

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