Der Collagefilm: Es geht um die Wahrheit
»Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung« (2022). © Progress Filmverleih
Der Collagefilm, montiert aus vorhandenem Archivmaterial, ist ein ganz eigenes und vielgestaltiges Genre. In den letzten Jahren hat Sergey Loznitsa den Archivfilm geprägt. Ein Durchgang durch die Filmgeschichte
Die Archivfilme von Sergey Loznitsa
Seit Mitte der 1990er Jahre hatte der ukrainische – damals in Russland lebende – studierte Mathematiker, Kybernetiker und Filmregisseur Sergey Loznitsa sehr eigenwillige, streng komponierte Dokumentarfilme im ländlichen Russland gedreht und dafür auf Festivals weltweit Preise eingesammelt. 2006 machte er mit einer ganz anderen Art dokumentarischen Kinos auf sich aufmerksam: Blokada / Blockade zeigte 52 Minuten lang im Archiv des Dokumentarfilminstituts St. Petersburg SPSDF gefundene, von verschiedenen Kameramännern gedrehte Sequenzen der sechzehn Monate von September 1941 bis Januar 1943 dauernden Einkreisung und Belagerung von Leningrad und seinen BewohnerInnen durch deutsche Truppen.
Im Unterschied zu dem etwa zehn Jahre vorher erschienenen gleichnamigen und auch thematisch ähnlich gelagerten Film des deutschen Regisseurs (und heutigen Dokumentarfilm-Produzenten) Thomas Kufus zum gleichen Thema ergänzte Loznitsa diese Bilder nicht mit den bis heute im historischen Dokumentarfilm üblichen Zeitzeugeninterviews. Stattdessen montierte er die langen, durch Schwarzbild getrennten Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom alltäglichen Hungern, Sterben und Überleben fast ungeschnitten und kommentarlos in chronologisch geordnete Sequenzen, die vom Soundmann durch eine ausgetüftelte naturalistisch-illustrative Toncollage zum Leinwand-Leben gebracht werden. Dieser Film wurde vielfach auf Festivals in Russland und international ausgezeichnet.
»Film ist formuliertes und artikuliertes Denken. Welche Art Material man verwendet, um eine Idee zu artikulieren – fertiges oder vom Regisseur selbst gedrehtes – ist nicht entscheidend«, sagte Loznitsa in einem Interview für die Zeitschrift »Osteuropa« zu seinem Film, in Anlehnung an eine berühmte Sentenz des sowjetischen Regisseurs Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1925: »Für mich ist es ziemlich egal, mit welchen Mitteln ein Film arbeitet, ob er ein Schauspielerfilm ist mit inszenierten Bildern oder ein Dokumentarfilm. In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.« Dennoch war »Blokada« für den Regisseur in der Folge – zeitlich parallel zur Entwicklung seiner ersten Spielfilmprojekte – Startpunkt einer ganzen Serie ähnlich arbeitender Filme, die jetzt mit der musikalisch erhöhten Coda von »The Natural History Of Destruction« auch einen filmästhetischen Abschluss findet. So montierte er 2008 in »Predstavlenie / Revue« sowjetisches Wochenschau-Material aus den 1950er und 1969er Jahren. 2015 baute er in Sobytie / The Event erneut aus Bildern von Kameramännern des SPSDF ein immersives Stimmungsbild der Stunden nach dem Putschversuch vom 19. August 1991 unter sich spontan auf den Straßen von Leningrad versammelnden Menschen und hektisch agierenden Funktionären. In einem der sich durch die Menge drängelnden Pulks von Offiziellen ist auch der junge Wladimir Putin zu sehen, der damals gerade vom KGB in die St. Petersburger Stadtregierung wechselte. Vier Jahre später begleitet Loznitsa in »State Funeral« in einem über zweistündigen monumentalen visuellen Panoramazug durch Moskau und verschiedene Regionen der Sowjetunion die Aktivitäten zur Betrauerung und Beerdigung nach dem Tod Josef Stalins 1953. Auch dies ein ebenso subjektives (in der Montage) wie kollektives Werk in der Arbeit mehrerer hundert Kameramänner, die Jahrzehnte nach ihrem Entstehen zum größten Teil erstmals ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurde.
Kleiner Exkurs ins Fernsehen
Ein Movens für Loznitsa war nach eigener Auskunft, in der durch den Film still gestellten Zeit den Blick zurück auf Situationen richten zu können, in denen der Verlauf des weiteren Geschichtsprozesses noch offen war. Dieser Verzögerungsmoment ist ein wichtiges Erkenntnismittel jedes historischen Archivfilms, das in trivialisierter Form seit Jahrzehnten im Geschichtsfernsehen seinen Niederschlag findet. Auch Loznitsas künstlerische Technik der Nachvertonung findet wenige Jahre nach »Blokada« seine entsprechend aufgemotzte Weiterführung im TV: Zuerst 2009 in der von Isabelle Clarke und Daniel Costelle für eine französische Produktion aus Filmquellen unterschiedlicher Herkunft realisierten (in Deutschland 2010 als ARD-Dreiteiler versendeten) Dokumentation »Der Krieg«, vier Jahre später zum Jahrestag des Kriegsbeginns dann das 6,2-Millionen-Follow-up »Apokalypse – Der Erste Weltkrieg« der gleichen RegisseurInnen. Die Filme sind in Dolby Digital so aufwendig nachvertont, dass man mit der entsprechenden Soundanlage die Panzer quer durchs Wohnzimmer fahren hört und zusätzlich zum Zweck größerer Zuschauergefälligkeit »im Look der Farbfilme der 30er und 40er Jahre koloriert« (Eigenwerbung ARD). Einen Erklärkommentar gibt es auch noch dazu.
Blick in die Filmgeschichte
Selbstverständlich ist die Aneignung vorhandener Bilder für das Kino keineswegs neu, sondern wurde fast seit Beginn der Filmgeschichte etwa für Kinoaktualitäten praktiziert. Eine Pionierin auf dem Gebiet, lange Filme als Kommentar zur Geschichte weitgehend aus vorgefundenem Material zusammenzusetzen, kam aus dem Kreis der sowjetischen Filmavantgarde um Eisenstein und Vertov: die Moskauer Regisseurin Esfir Shub, die aus im Umfeld der Zarenfamilie gedrehtem Material mit »Der Fall der Dynastie Romanow« (1927) eine kritische Abrechnung mit den russischen Royals baute. Ihre künstlerischen Mittel sind die Kontrastierung durch eingefügte Bilder (etwa armer Bauern) und die Kommentierung durch Zwischentitel. Es folgten zwei Filme ähnlicher Machart aus ihrer Hand. 1932 konfrontiert der Surrealist Henri Storck in »Histoire du soldat inconnu« in einer Art filmischer Variante von John Heartfields kämpferischen Antikriegsfotocollagen die gediegenen Ansichten von Aufmärschen und Kranzablegungen aus französischen Wochenschauen mit einmontierten Bildern von Leichen und Skeletten.
Storcks Film war ganz bewusst ohne Ton oder erklärende Texttafeln gedreht. Diese dramaturgische Schlichtheit wurde aber bald von der alle Bilder vereinnahmenden Allgegenwärtigkeit der NS-Propaganda und den alle Vorstellungen übersteigenden Verbrechen eingeholt. Vermutlich geprägt durch die Schocks dieser Erfahrungen versuchten in den Nachkriegsjahren Filme mit politisch aufklärerischer Agenda neben der Umdeutung der Bilder auch deren Kontextualisierung durch einen kämpferischen, oft bissig ironischen Kommentar – etwa Erwin Leisers »Mein Kampf« (1960) oder »Der gewöhnliche Faschismus« (1965) von Mikhail Romm. Claude Lanzmann setzte in »Shoah« (1985) dann ganz auf die Orte und Zeugen der Verbrechen statt auf Archivmaterial.
Für viele Boomer war »The Atomic Cafe« zwischen den großen Demos gegen den Nato-Doppelbeschluss Anfang der 1980er Jahre wohl die erste Konfrontation mit den kulturellen Abgründen der US-Kultur jenseits von Woody Allen und Woodstock – der ohrwurmartige Slogan »Duck & Cover« wurde zu einem vordigitalen Meme. Die parallel zu Reagans Aufrüstungsprogramm aus Schnipseln und längeren Stücken von Propaganda, Army-Trainingsfilmen, Werbung und Spielfilmen montierte Kompilation ist bittere Realsatire auf die Mentalität des Kalten Kriegs. Dass der einzige Kommentar zu den Originalzitaten im Einsatz zeitgenössischer Musiknummern besteht, macht den Film auch zu einer Schule der Wahrnehmung. Hinter der Produktion stand mit dem Filmsammler Pierce Rafferty, seinem Bruder Kevin als Editor und der Journalistin Jayne Loader ein engagiertes Team, das viel an Energie, Lebenszeit und Geld in die Arbeit steckte. Heute sind thematische Querverbindungen zu Losznitsas »The Natural History of Destruction« unübersehbar. Bedrückender aber – und tief ironisch–, wie sich die »American Angst« der US-Nachkriegsjahre heute in der russischen Propaganda spiegelt. 2018 gab es eine 4K-Release für den immer noch höchst sehenswerten Film, mit Werbung ist er auch auf Youtube verfügbar.
Glossar
Das Feld des »Kinos aus zweiter Hand« (wie ein Standardwerk von Christa Blümlinger zum Thema heißt) reicht vom illustrativ in einen Spielfilm eingefügtem Zitat bis zur hundertprozentig recycelten Collage. Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass es sich nicht um ein Genre, sondern eine bestimmte künstlerische Praxis handelt, deren Ergebnisse in unterschiedlichsten Formen vorliegen können. Die dabei zur Beschreibung benutzten und verhandelten Begriffe sind je nach Standpunkt und Reflexionsgrad sehr unterschiedlich und bedürften eigentlich bei jeder Debatte vorherig Klärung: Archivfilm, Collagefilm (eine Bezeichnung, die mir sinnvoll erscheint, weil sie das Spezifische der Machart beschreibt und dabei auch die Verbindung zu anderen Künsten herstellt), Found Footage, Kompilationsfilm, Montagefilm etc. Auch der Begriff des Archivs hat sich – unter anderem durch den Einfluss von Michel Foucaults »Archäologie des Wissens« – von der Fixierung auf die Orte institutioneller Sammlung zuletzt rasant erweitert.
Found Footage
Auch mit »Found Footage« bezeichnen manche die gesamte Praxis der Wiederverwendung vorhandenen Materials, andere nur die experimentelle Arbeit mit analogen oder digitalen Filmschnipseln. Diese Tradition im engeren Sinn entwickelte sich aus dem Aufbruch der Avantgarde der 1960er Jahre als genuin künstlerische Form, die das Material selbst mit metahistorischem Impetus auf seine materielle Existenz, Wirkungsweisen und Ästhetik befragt. Auch hier geht es um Rückgriff und Aktivierung von Gedächtnisbeständen, Geschichte und Politik. Doch die ureigenen Gebiete des Found-Footage-Films sind die selbstreflexive Auseinandersetzung mit privater Mikrogeschichte und dem Medium des Films selbst. Zu nennen wären hier in den USA etwa Bruce Conner und Sharon Sandusky, in Deutschland Michael Müller – und dann der Kosmos der dem filmischen Upcycling verschriebenen Wiener Avantgarde: Martin Arnold mit seiner Ultra-Slow-Motion, Lisl Ponger oder das späte Werk des 2019 verstorbenen Gustav Deutsch mit seinem der »Filmwesensforschung« gewidmeten Hauptwerk »Film ist.« aus den Jahren 1998 bis 2002. Auch Essayfilmer wie Chris Marker, Hartmut Bitomsky, Harun Farocki oder der späte Godard arbeiteten mit Archiv- und Found-Footage-Materialien, rahmen diese aber meist in eine sprachliche Filmerzählung, die die eigene subjektive Perspektive reflektierend einbringt.
Montage
Es ist eine Binsenweisheit, dass Objektivität im Dokumentarfilm nicht existieren kann, weil schon die Wahl des Kamerastandpunkts eine Wertung darstellt. Ebenso verhält es sich mit der Montage, die im Collagefilm das Hauptwerkzeug jeder Narration ist. Jeder Schnitt ist ein Kommentar. Jedes Geräusch kann eine Stellungnahme sein. Und auch Auslassungen schaffen Bedeutung. Ein interessantes Beispiel für diese Mechanismen ist Eyal Sivans Dokumentarfilm Ein Spezialist aus dem Jahr 1999, der sich für seine 128 Minuten über den Prozess gegen Adolf Eichmann aus den 350 erhaltenen (von insgesamt 500) Filmstunden bedient hat, die von einem US-Fernsehteam mit vier Kameramännern unter Leo Hurwitz’ Regie 1961 in Jerusalem gedreht worden waren. Für seinen Film hat der israelische Regisseur dieses Material digital stark bearbeitet und etwa eine neue komplexe Tonebene mit Irritationseffekten und Spiegelungen aus dem Raum auf Eichmanns Glaskabine hinzugefügt.
2005 meldete sich dann Stewart Tryster, der ehemalige Direktor des Steven Spielberg Jewish Film Archive in Jerusalem, mit schwerwiegenden Vorwürfen an den Wahrheitsgehalt des Films. Sivan habe, so der (sachlich korrekte) Vorwurf, Zeugenaussagen in der Zuordnung inhaltlich so verändert, dass Zeugen in ein falsches Licht gerückt würden und Eichmann zusätzlich durch Auslassung inkriminierender Stellen verharmlost werde. Tryster konnte zu diesen Erkenntnissen nur kommen, weil er selbst als Regisseur eines anderen Films zum Eichmann-Prozess das Material exzellent kannte. Ein gewisses mediales Grundwissen, skeptische Haltung gegenüber dem Gezeigten und eventuelles Nachforschen sind im Umgang mit dokumentarischem Kino immer von Vorteil: Auch um die von Loznitsa neu kreierte Tonspur in Blokada als künstlerische Intervention zu würdigen, sind zumindest Kenntnisse darüber notwendig, dass zur Drehzeit der Bilder in den 1940ern noch kein Direktton zur Verfügung stand.
Kosten und Rechte
Einer der größten Unterschiede zwischen der Bedienung aus einem offiziellen kommerziellen oder öffentlich-rechtlichen Filmarchiv oder privatem Found Footage sind die Fragen von Kosten und Rechten, die schon manches ambitionierte Filmprojekt zu Fall brachten. Auch Andres Veiel berichtete bei der Pressekonferenz zum Film, dass er – bzw. die Produktion – für seinen größtenteils aus Archivmaterial zusammengeschnittenen Beuys-Film von 200 Rechteinhabern Genehmigungen einholen (und zahlen) musste, die dann auch nur für fünfzehn Jahre gelten. Das heißt, dass der 2017 realisierte Film ab 2032 schon nicht mehr verfügbar sein wird.
Veiel erzählte auch, dass das Bundesarchiv für einen Filmclip aus der NS-Zeit Preise »im dreistelligen Tausenderbereich« pro Minute verlangte, weil der Kameramann noch bis 1960 gelebt hatte. »Damit wird Material, das eigentlich Public Domain sein sollte, so wegverwaltet, dass es nicht verwendet werden kann«, sagt er im Interview der »SZ«. Und bei der Arbeit an dem von Editorin und Regisseurin Bettina Böhler aus Bergen unterschiedlichsten Materials als reinen Collagefilm montierten großartigen Schlingensief-Porträt In das Schweigen hineinschreien war einer der ganz großen praktischen Vorzüge der Produktion, dass die Rechte für Privatfotos und Arbeiten bei den Co-Produzenten des Filmes lagen.
Fakes
Wer über den Umgang mit Archivmaterial spricht, kann über Fälschungen nicht schweigen. Das liegt in der Natur der Sache. Dabei galten in den Anfängen des »Genres« im 19. Jahrhundert gerade Filme gegenüber der Fotografie noch als praktisch fälschungssicher. Das wäre in Zeiten von Deep-Fake-Software eine Lachnummer. Die bekanntesten gerne zitierten Beispiele sind auch hier wieder sowjetischen Ursprungs: etwa viele angebliche Originalbilder aus der Revolutionszeit, die in Wirklichkeit entweder aus späteren Reinszenierungen historischer Ereignisse oder aus zeitgenössischen Spielfilmen stammen. Der legendäre Mockumentary »Kubrick, Nixon und der Mann im Mond« von Regisseur William Karel (2002) spielt mit der Verrückung von O-Ton-Schnipseln bekannter Politiker in einen sinnentstellenden Kontext. Und Martin Persiels Fakedoku »This Ain’t California« (2012) über angebliche Heroen der Rollbrett-Szene der DDR gibt stilgerecht wacklig nachgedrehte Szenen als altes Super-8-Material aus dem Familienarchiv aus und nutzt so das Spiel mit Zuschauererwartungen und dokumentarischen Authentifizierungsstrategien zur Täuschung über den Wirklichkeitsstatus seines Films.
Kommentare
Kompilationsfilm
Hervorragend und kenntnisreich. DANKE!
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